Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
des Staatsanwalts war noch nirgendwo aufgetaucht.
Der Detective drehte sich langsam auf der Stelle und hielt angestrengt Ausschau. Sein Blick fiel auf das gegenüberliegende Gebäude, einen neuen Behördenbau mit Dutzenden von Fenstern in Richtung der Centre Street. Vor einiger Zeit hatte Bell in diesem Haus mit einer kurzen Geiselnahme zu tun gehabt und wusste daher, dass sich an einem Sonntag so gut wie niemand dort aufhalten würde. Ein perfektes Versteck, um auf Grady zu warten.
Aber das galt auch für die Straße – um beispielsweise aus einem vorbeifahrenden Wagen zu schießen.
Wo, wo?
Roland Bell erinnerte sich an einen Jagdausflug, den sein Vater und er in den Great Dismal Swamp im südlichen Virginia unternommen hatten. Ein Keiler war auf sie losgegangen. Sein Vater hatte das Tier verwundet, aber es war im Unterholz verschwunden. Der Mann hatte geseufzt und gesagt: »Wir müssen ihn erledigen. Ich hab noch nie ein verletztes Tier zurückgelassen.«
»Aber er wollte uns doch angreifen«, hatte der Junge protestiert.
»Nun ja, mein Sohn, wir sind in seine Welt eingedrungen, nicht er in unsere. Aber darum geht es gar nicht. Es ist keine Frage der Fairness. Wir müssen ihn erwischen, und wenn es den ganzen Tag dauert. Alles andere wäre unmenschlich ihm gegenüber, und außerdem ist er jetzt doppelt gefährlich, falls ein anderer ihm über den Weg läuft.«
Der kleine Roland hatte das dichte Gewirr aus Zweigen und Ranken, Sumpfgras und Schlammlöchern betrachtet, das sich meilenweit in alle Richtungen erstreckte. »Aber er könnte überall stecken, Dad.«
Sein Vater hatte grimmig gelacht. »Oh, mach dir keine Sorgen wegen der Suche nach ihm. Er wird uns finden. Lass den Daumen auf dem Sicherungshebel. Du musst vielleicht sehr schnell schießen. Traust du dir das zu?«
»Ja, Sir, allerdings.«
Bell nahm nun ein weiteres Mal die Fahrzeuge in Augenschein, die Gassen der näheren Umgebung, die Häuser zu beiden Seiten und gegenüber dem Justizgebäude.
Nichts.
Kein Charles Grady.
Kein Erick Weir, kein Anzeichen für einen oder mehrere Komplizen des Killers.
Bell berührte den Kolben seiner Waffe.
Mach dir keine Sorgen wegen der Suche nach ihm. Er wird uns finden…
…Neununddreißig
»Ich bin im letzten Flügel des Untergeschosses und gehe von Tür zu Tür, Rhyme.«
»Überlass das der ESU.« Er beugte angespannt den Kopf bis zum Mikrofon vor.
»Es werden alle gebraucht«, flüsterte Sachs. »Das Gebäude ist verdammt groß.« Sie war nun in der »Gruft« und arbeitete sich durch die Gänge vor. »Und unheimlich. Wie die Musikschule.«
Es wurde immer nur noch rätselhafter…
»Du solltest dein Buch irgendwann mal um ein Kapitel über Tatorte in gruseliger Umgebung erweitern«, scherzte sie vor lauter Nervosität. »Okay, lass uns jetzt Funkstille halten, Rhyme. Ich melde mich wieder.«
Rhyme und Cooper wandten sich den Beweismitteln zu. In dem Gang, der zum Zellentrakt der »Gruft« führte, hatte Sachs die Klinge eines Rasiermessers sichergestellt, dazu Splitter eines Rinderknochens und graue Gummistücke, die benutzt worden waren, um Schädel- und Hirnfragmente zu simulieren. Außerdem hatte sie Proben des falschen Bluts genommen: Zuckersirup mit roter Lebensmittelfarbe. Weir hatte mit seiner Jacke oder seinem Hemd möglichst viel von dem echten Blut aufgewischt, aber Sachs war bei dem Tatort so methodisch wie immer vorgegangen, und daher lag ihnen nun auch hiervon eine Probe zur Analyse vor. Der Schlüssel oder Dietrich, mit dem Weir die Fesseln geöffnet hatte, blieb verschwunden. Darüber hinaus fanden sich in dem Korridor keine weiteren Anhaltspunkte.
Die Abstellkammer, in der Weir sich umgezogen hatte, erwies sich als etwas ergiebiger – sie fanden eine Papiertüte mit dem blutigen Knallkörper und der Blase sowie den Kleidungsstücken, die sie seit der Verhaftung in Gradys Wohnung kannten: der graue Anzug, das weiße Hemd, das ihm zwischenzeitlich als Wischlappen gedient hatte, und ein Paar hochwertige Lederschuhe Marke Oxford. Cooper stieß bei der Untersuchung auf weitere Partikel: zusätzliche Latex- und Make-up-Spuren, Reste von Klebewachs, Tintenflecke, die mit den früher gefundenen übereinstimmten, dicke Nylonfasern und noch mehr getrocknetes falsches Blut.
Die Fasern stammten von einem aschgrauen Teppich. Das falsche Blut von dieser Fundstelle war Farbe. In den Datenbanken, die ihnen zur Verfügung standen, fanden sich keinerlei Informationen zu diesen beiden Materialien,
Weitere Kostenlose Bücher