Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
alles. Das ist der Kern jeder Moral. Jeder Mensch und jeder Staat muss sich dem Guten, Wahren, Reinen, Schönen verschreiben, wohl wissend, dass Menschen auch andere Seiten haben. Wir brauchen für unser Gemeinwohl, also für das gemeinsame Wohl, Regeln des Zusammenlebens, die Altruistisches belohnen und Destruktives bestrafen. Wir müssen uns diesen Regeln unterwerfen, auch wenn es lustvoll sein kann, sie zu überschreiten.
Mitgefühl
Vermutlich kann die Kunst bewirken, dass wir beide Tendenzen miteinander versöhnen. Oder gute Wissenschaft. Oder Philosophie. Vielleicht müssen wir unsere eigenen Erfahrungen machen – und sie dann transzendieren, um so viel wie möglich aus ihnen zu lernen und unseren Kindern weiterzugeben. Vor allem aber sollten wir eines üben, das uns selbst, uns untereinander und uns in globalisierten Zusammenhängen helfen könnte, mehr Freundlichkeit und Fürsorge, Achtsamkeit und Respekt, Würde und Wertschätzung – mit anderen Worten: Gutes, in die Welt zu bringen, das man unter dem Sammelbegriff Mitgefühl zusammenfasst. Gleichzeitig wären wir naiv (was ja nichts Schlimmes sein muss) und vermutlich wirkungslos (was schlimmer ist), wenn wir nicht gleichzeitig dafür sorgen, dass Politik und Sozialsysteme unserer Länder gründlichst reformiert werden. Das Ziel muss sein: Die Schere von Arm und Reich nicht weiter auseinanderdriften zu lassen, nicht global und nicht in jedem einzelnen Land (Italien hat es in Nord-Süd-Richtung, Deutschland in West-Ost-Richtung; Europa wiederum hat wie überhaupt der Globus – noch – ein Nord-Süd-Gefälle). Das Ziel muss sein, mehr Solidarität zu wagen und „res publica“ überall zu erhalten oder überhaupt erst einzuführen. Und das scheint momentan so schwer wie lange nicht.
Denn während in Europa weitgehend Frieden herrscht, toben die (Stellvertreter-)Kriege anderswo. Während Europa prosperiert (noch), lässt es seine ehemaligen Kolonien verkommen, schottet es sich ab gegen deren Elend, gegen die Bedürfnisse dortiger Menschen nach Wasser, Nahrung, Arbeit, Bildung, Würde. Das Böse hat heute die Form von Gleichgültigkeit, mangelndem Engagement vieler und von fortgesetzter Ausbeutung, fehlendem Verantwortungsgefühl und dem Sich-Abwenden der Unternehmen und Regierungen, wie der sogenannten „kleinen Leute“. Alle handeln nach dem Motto: „Wenn ich nicht hinschaue und nicht darüber rede, dann existiert es auch nicht.“
Ein kleiner Blick vom schönen Rom hinüber nach Kinshasa. Im Kongo herrscht Gewalt, viel Gewalt, grausamste Gewalt. „In ihrer womöglich erschreckendsten Form, nicht ersonnen von ausgewählten Sadisten, die in Staatsgefängnissen foltern, nicht als Werk eines Psychopathen, der wild um sich schießt. Sondern als flächendeckendes Gemetzel wehrloser Menschen, ausgeführt von riesigen Gruppen von Männern und sogar Kindern, geduldet von einer internationalen Gemeinschaft, die ihre Ressourcen schont. Ihre Soldaten, aber auch ihre Ideen und schließlich ihr Mitgefühl“, schreibt Elke Schmitter in ihrer Besprechung von „Kongo. Eine Geschichte“ des Historikers David van Reybrouck (Spiegel Nr. 17, S. 148), einem Autor, der sich auf Überraschungen einlässt. Überraschungen, die geschehen können, „wenn das Erkenntnisinteresse des Forschenden sich zunächst vom Augenschein, von seinen Sinnen, vom Staunen und von Gesprächen leiten lässt“, und entdeckt, „dass Menschen überall Menschen sind. Wehrlos, brutal, der Hoffnung bedürftig. Und darauf angewiesen, dass man ihre Geschichte erzählt. Auch, damit sie sich nicht wiederholt“ (ebd., S. 150; siehe auch Kapitel 16 „Gewissenlos – sind Gewalttäter grundsätzlich krank?“ in diesem Buch).
Gegensätzliches zusammenbringen
Und so saß ich in Rom, in Stockholm und Göttingen, saß in Zürich und Wien, in Hamburg und München, in Berlin, in Luxemburg und in vielen anderen Städten, an Seen und Flüssen und am Meer. Saß und schrieb Erlebtes auf. Geschichten über Menschen, die – ähnlich wie die Kindersoldaten im Kongo und doch wieder ganz anders – genötigt wurden, Zeugen und vielleicht MittäterInnen zu werden von furchtbar bösen Handlungen; Geschichten von Menschen, die angeblich freiwillig und nach langen vorherigen Überlegungen getötet haben. Geschichten über Leid. Ich erzähle sie aus der Sicht derjenigen, die Opfer von Grausamkeiten geworden sind und mit sich ringen mussten; vielleicht lebenslang ringen müssen, nicht selbst (wieder) zum
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