Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
abwesenden Partnern) versagt heute sehr oft, leider: Unwissenheit, Laissez-faire-Impulse, Unberechenbarkeiten und (Wohlstands-)Vernachlässigung, aber auch die Sexualisierung, ja Pornografisierung vieler Lebensbereiche, zusammen mit der enormen Zunahme und Verdichtung von Arbeitsstress und Zukunftsangst sorgen bei vielen Müttern und bei noch mehr Vätern für eine Entfremdung von ihren Kindern. Immer mehr Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene aller Gesellschaftsschichten verwahrlosen und brauchen professionelle Unterstützung (Pädagogik, Beratung, Betreuung, Psychotherapie, Psychiatrie und andere Heilkunst). KrankenkassenvertreterInnen stöhnen, GesundheitspolitikerInnen sind ratlos: Wie kommt es, dass unser Sozial- und Gesundheitswesen uns die Haare vom Kopf frisst, die Kosten für ambulante und stationäre Behandlungen von psychischen Problemen explodieren, ohne dass messbare Erfolge zu verzeichnen wären?
Eine der möglichen Antworten lautet: Weil wir seit der sogenannten Aufklärung (die notabene mit der Hexenverfolgung ihren Anfang nahm) immer noch so tun, als seien Menschen vernünftige Lebewesen, die rational denken und handeln – oder alternativ: Verrückte, Kranke, Auszusondernde, die repariert oder – falls das nicht geht – in Krankenhäusern, als (Früh-)RentnerIn, als TäterIn in Gefängnissen etc. entsorgt werden müssten. Doch was ist, wenn das ganze Konzept falsch ist? Was ist, wenn wir weder immerzu einen freien Willen haben noch im Zweifelsfall gestört, verrückt oder krank sind, jedenfalls die wenigsten von uns? Was ist, wenn unsere Gesellschaft in vielen ihrer Strukturen verrückt und krank ist und Menschen auf krank machende Lebensumstände mit der von der Natur vorgesehenen natürlichsten Form reagieren: mit Kampf-, Flucht-, Erstarrungs- oder Unterwerfungszuständen, die man Dissoziation nennt und die einen später immer wieder heimsuchen? Was ist, wenn die Zunahme von Stress, von Gewalt, von einem Mangel an Mitgefühl nicht nur die uns umgebende Natur und Tierwelt, sondern auch uns selbst zu zerstören droht? Wenn die Menschen fragmentieren unter Stress, nicht mehr, sondern weniger berechenbar werden, eher auseinanderfallen, als eine koordinierte zivilisierte Persönlichkeit auszubilden: Was müssen wir dann tun?
Was ist in diesem Buch zu finden?
Das sind die Themen, denen ich in meiner Arbeit weiter und weiter nachgehe. Dabei begegne ich Menschen, die meine „PatientInnen“ oder „KlientInnen“ sind, mit der gleichen Neugier wie den KollegInnen und den ZuhörerInnen, die mir nach meinen Vorträgen oder über meine Webseite ihre Geschichten erzählen. Ich fahre herum – jedes Jahr zusammen genommen mindestens zweimal um die Erde – und höre zu. Ich sammle Geschichten, manchmal auch die meiner eigenen Familie und meines eigenen Gewordenseins. Dabei orientiere ich mich vor allem am Erfolg, denn ich möchte wissen, was hilft. Was hilft, wenn die eigene Kindheit überschattet wurde von Grausamkeiten? Was hilft, wenn man zum Verbrauch in einem destruktiven Kult gezeugt wurde? Und was, wenn man namenlosem Grauen in einer ständig alkoholisierten und übergriffigen Familie entkommen ist? Was hilft, wenn man sexualisiert benutzt wurde, schon als Kind? Und was, wenn man dem sadistischen Psychoterror einer psychotischen Mutter entronnen ist? Wie überlebt man Krieg, Folter und Vertreibung? Und wie versucht man, nicht selbst böse zu werden ob all der bösen Taten, die an einem oder einer begangen wurden oder deren Zeuge man wurde? Davon handelt mein Buch, das ich in zehn Jahren geschrieben und immer wieder aktualisiert habe – an vielen Ecken immer neu beginnend und es schließlich zu einem Ganzen zusammenwebend, in der Hoffnung, es möge sich in der Textur aus vielem ein Bild ergeben. Ein Bild, das Menschen anregt, sich mit schlechten Verhältnissen nicht zu begnügen. Niemals.
Lesen Sie dieses Buch also von vorne nach hinten oder von hinten nach vorn. Oder fangen Sie mittendrin an und schauen nach links und rechts. Lesen Sie die Interviews mit Fachleuten und Betroffenen, blättern sie in den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien, von denen ich einige Hundert zusammengefasst habe. Lesen Sie sich fest in kleinen Essays, die einzelne Punkte vertiefen, und vergleichen Sie zwischendurch immer das Gelesene mit Ihren persönlichen Lebens- und Berufserfahrungen.
Beim Lesen und Nach-Denken werden Sie einem Thema immer wieder begegnen: Ohne gute Beziehungserfahrung wird es nicht gehen.
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