Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Täter oder zur Täterin zu werden. Manche schaffen es, andere nicht. Sie werden eine Geschichte lesen von einer verhinderten Amokläuferin und einige von selbst als Kind gequälten Amokläufern und Terroristen, die nichts anderes wollten als Vernichtung – und die ihr Vorhaben auch umsetzten. Und eine Geschichte erzählt auch ein verurteilter Mörder, der erst, nachdem er eine Frau schwer verletzt und eine getötet hatte, mit seiner Gefängnistherapeutin, die ebenfalls in diesem Buch zu Wort kommt, seine mörderischen Zwangsfantasien auflösen konnte. Er bleibt vielleicht für lange, vielleicht für immer inhaftiert und versucht doch, seine Menschenwürde zu finden und einen Weg, mit seiner Schuld umzugehen. Ich bin auch für viele andere Menschen – Opfer wie Täter – dankbar, dass er, so aufrichtig, wie er es vermochte, mir ein Interview gab. Nichts kann seine Taten weniger schrecklich machen, doch wie er sich ihnen gestellt hat davon können wir lernen.
Bei allen Begegnungen versuche ich den Blick zu werfen auf das, was uns Hoffnung machen kann: Dass Menschen lernfähig sind. Dass sie das Gute, das Richtige tun wollen. Dass sie sich an Dingen erfreuen, Gefühlsaufwallungen beherrschen oder sublimieren, daraus Musik oder Kunst formen können. Dass sie in Beziehungen und durch Beziehungen Mitgefühl spüren und selbst entwickeln können. Dass sie sich unendliche Mühe geben, ihren eigenen Kindern liebevoll und unterstützend zu begegnen oder zumindest eine Kompensation suchen für das Leid, das sie anderen angetan haben und / oder das ihnen selbst angetan wurde.
Dieses Buch versucht etwas Niedagewesenes: Es bringt Opfer und Täter, Opfer-TherapeutInnen und Täter-TherapeutInnen in einen Raum – unter einen Buchdeckel. Manche werden sich dagegen innerlich wehren: „Wie konntest du nur ...“ Doch ich bitte um Geduld: Lesen Sie dieses Buch und verstehen Sie: Die meisten Täter sind ehemalige Opfer von Bindungstraumatisierungen und Gewalt, von Rohheit und Verlassen-Sein, denen nicht rechtzeitig geholfen wurde, ihren Weg anders einschlagen zu können. Viele, sehr viele hätten das Angebot gern und rechtzeitig angenommen. Unbehandelbar sind nur wenige. Und: 99 % der Täter sind irgendwann wieder in Freiheit. Wenn wir uns nicht bemühen zu verhindern, dass sie wieder straffällig werden – dann produzieren sie wieder neue Opfer. Noch etwas wird in diesem Buch überdeutlich: In Opfern gibt es auch eine andere Seite. Eine, die meist gegen sie selbst losschlägt, manchmal aber auch gegen andere losschlagen kann. Eine Seite, die wir „Täterintrojekte“ oder täterimitierende Anteile nennen. Hören wir auf, Opfer und Täter, Opfer-Therapien und Täter-Therapien gegeneinander auszuspielen. Wir brauchen für beide ein Verstehen und für beide Seiten qualifizierte HelferInnen (siehe Interview 11 mit Frank Urbaniok in diesem Buch). Das entschuldigt Grausamkeiten in keiner Weise, aber es fordert zu etwas auf: zu einem grenzüberschreitenden Denken und Handeln, innerlich wie äußerlich. Das ist gar nicht so einfach. Denn gleichzeitig gilt ja: Bei Gewalt gibt es kein Einvernehmen. Man muss sich positionieren. Das gilt in Familien – hält man zum Täter oder zum Opfer? – wie in Gesellschaften. Ich behaupte: Man kann das eine tun – sich positionieren –, ohne das andere zu lassen: den Keim möglicher Täterstrukturen in Opfern und die Opferstrukturen in Tätern bemerken und entsprechend (be-)handeln.
Dabei werde ich nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Mensch eben nichts Einheitliches ist. Das Konstrukt der einen ganzheitlichen Persönlichkeit mit einem durchgängigen Bewusstseinsstrom muss aufgegeben werden. Es lässt sich nicht halten. Wir alle bestehen aus sehr verschiedenen Strebungen und Impulsen; aus vielen Seinsformen und Zuständen, in unserer „Alles-ist-machbar-und-globalisiert“-Welt erst recht. Manche – besonders die als kleine Kinder bereits Gequälten – bestehen oft sogar aus sehr verschiedenen Selbst-Zuständen, die sie nicht überschauen und nicht koordinieren können. Sie zu verstehen und zu kanalisieren, ohne sie nur in dunkle Ecken zu verbannen, von wo aus sie sich ihren Weg bei einer passenden Gelegenheit nach außen bahnen können – langsam und schleichend wie Gift, oder abrupt ausbrechend wie ein Geysir –, das ist die Aufgabe aller, die Menschen privat oder professionell begleiten.
Denn die Kleinfamilienerziehung (Mütter mit innerlich und / oder äußerlich nur allzu oft
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