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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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daß er es sich nicht eingebildethatte. Etwas raschelte hinter ihm, aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung; er drehte sich um, aber dort war nichts. Im Brunnen neben ihm schwebte das Spiegelbild einer Laterne. Und plötzlich wußte er, daß er sterben würde.
    Nicht heute und wohl auch nicht so bald, aber irgendwann: ein Körper war zerreißbar, zerstörbar wie irgendein Ding. Er betrachtete seine Hände, zwei graue Umrisse, schmal und sehr fein gezeichnet, und als er die Ähnlichkeit erkannte, wurde seine Furcht so stark, daß sie ihm wie ein Teil der äußeren Welt vorkam, wie etwas aus der Dunkelheit, die ihn umgab. Er schwitzte, trotz der Kälte. Er schloß die Augen. Er versuchte, sich auszumalen, daß er nicht mehr da wäre, nirgendwo, an keinem Ort; und er begriff, daß er sich eben das nicht ausmalen konnte, daß er in seiner Vorstellung immer anwesend sein mußte, auf irgendeine Art, und sei es versteckt oder verwandelt in ein Gespenst.
    Als er die Augen wieder öffnete, war der Mond gewandert, hinter sich hörte er ein Scharren, ein Vogel wohl oder ein Eichhörnchen, aber das Geräusch erschreckte ihn nicht. Er ballte die Fäuste und stand langsam auf.
    Er ging aus dem Park, die Straße hinunter, eineAmpel blinkte gelb, nirgendwo fuhr ein Auto. Er blieb vor einem Schaufenster stehen: Radioapparate, eine Waschmaschine, davor die Umrisse seines Spiegelbildes; aber auf einmal störten ihn seine Ohren nicht mehr. Auf einem der Radios leuchteten die Digitalziffern einer Uhr: eine Null, eine Drei, ein Doppelpunkt, eine Null und eine Sieben. Er betrachtete sie, bis die Sieben zu einer Neun geworden war.
    Aus einem Restaurant drang gedämpfter Lärm; Musik, Stimmen, die sich vermischten; unwillkürlich ging er schneller. Neben einem Kaugummiautomaten blieb er stehen. Eigentlich mochte er kein Kaugummi, aber jetzt mußte es wohl sein. Er holte eine Münze hervor, warf sie in den Schlitz und hörte sie durch die metallenen Tiefen des Kastens rollen, einmal, ein zweites und drittes Mal weitergestoßen von unsichtbaren Fingern, schließlich rastete etwas ein, und eine Packung fiel heraus. Er riß das Papier auf, schälte einen Streifen Kunststoff aus der Folie und schob ihn in den Mund. Er schmeckte süß, verformte sich zäh, wurde runder mit jedem Biß. Und als eine Hand seine Schulter berührte, erschrak er nur wenig. Er hatte es erwartet.
    Er drehte sich um und sah dem Polizisten ins Gesicht. Er dachte an die Lehrerin, den angebissenen Apfel in der Bahn, an Thule und die Drachen in Ozeanen, die keinen Namen hatten. Und trotz allem war er erleichtert.
    »Na?« fragte der Polizist. »Wie heißt du denn?«
    Er würde also heimkommen. Sein Vater würde schreien, er würde bestraft werden, Hausarrest oder kein Taschengeld für lange Zeit, seine Mutter würde nicht mit ihm sprechen, und schließlich, was blieb ihnen übrig, würden sie es vergessen. Doch seine Ohren würden ihn nie mehr stören. Er sah den Polizisten an. Dann holte er Luft und nannte seinen Namen.
    Später war ihm dieser Moment immer als seine erste Erinnerung erschienen. Natürlich war das unsinnig, es gab unzählige, die viel älter waren, aber sie alle schienen noch nicht ganz ihm, sondern zum Teil einem anderen zu gehören, den er in einem anderen Leben gekannt hatte.
    Die meisten waren Bilder, unzusammenhängend, schlecht belichtet, zerfasert an den Rändern. Der Teppich im Wohnzimmer, auf dem er seine Spielsachen verstreute, um zuzusehen, wie sie zu einem insektenhaften Leben erwachten und zueinanderhin oder voneinander weg krochen. Eine Ente aus Gummi, ein Soldat mit einem bald schon abgebrochenen Bajonett in Händen, ein Stoffbär mit einem schiefen Hut und ein kleiner Polizist, den er dabei ertappte, wie er sich mit zittrigen Bewegungen in Richtung des Türspalts schob, ein ärgerlicher Fluchtversuch. Er wußte von der stummen Gemeinschaft zwischen ihnen, von ihrem stillen und leicht feindseligen Einverständnis, das ihn ausschloß, und er ahnte auch, daß sie sich über ihn verständigten, wenn er nicht im Zimmer war oder schlief, aber es gab nichts, das er dagegen tun konnte. Ein anderes Bild zeigte seinen Vater, der sehr schnell auf und ab ging, wütend über irgend etwas, er wußte nicht worüber und würde es nie erfahren. Ein anderes das Gesicht seines Bruders Paul, der, die Augen halb geschlossen, den Kopf zurückgelegt, die Marionettensendung im Fernsehen verfolgte. Beide hatten sie geglaubt, daß diese Puppen Nachmittag für

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