Der fernste Ort
aufgeschürfter Ellenbogen, die Halme vor seinen Augen und das Flugzeug, das er immer noch sehen konnte, sich schon in etwas Vergangenes verwandelte. Von der Hügelkuppe hörte er Pauls Lachen.
Der Rettungsversuch war wohl erfolglos gewesen. Auf der Heimfahrt sprachen seine Eltern kein Wort miteinander, sein Vater saß schweigend am Steuer, seine Mutter blickte konzentriert auf eine Landkarte, die sie während der ganzen Fahrt nicht weglegte, und Paul zeichnete mit gerunzelter Stirn Strichmännchen, die lange Schatten warfen, auf ein Blatt Papier.
Eine Woche später packte sein Vater zwei Koffer. Als er sie in den Flur tragen wollte, stolperte er, fiel die Treppe hinunter und blieb mit rotem Gesicht und einem häßlich verdrehten Fuß im Flur liegen. Einer der Koffer hatte sich geöffnet und seinen Inhalt, Hemden, Unterwäsche, einen Rasierapparat, mehrere Paar Schuhe, über den Bodenverteilt. Der Vater lag da, blickte um sich, überrascht, mit offenem Mund, fast neugierig, und seine Lippen bewegten sich, ohne daß ein Laut zu hören war. Er griff nach einem der Schuhe, drehte ihn in seiner Hand, als hätte er ihn noch nie gesehen, und legte ihn wieder weg. Die Mutter kam die Treppe herunter, ging zum Telefon und suchte die Nummer der Ambulanz. Aber sie fand sie nicht; auch dem Vater fiel sie nicht ein. »Habt ihr die nicht in der Schule gelernt?« – »Doch«, sagte Julian, »sicher!« Aber er konnte sich nicht erinnern. Der Vater machte Vorschläge, wo das lederne Büchlein sein mochte, in das er alle wichtigen Nummern eintrug, und die Mutter suchte, und Julian stand daneben und sah zu. Endlich fand sie es und wählte, verwählte sich, sagte Entschuldigung, wählte noch einmal, ein gebrochener Fuß, sagte sie, jawohl, gebrochen, sieht nicht gut aus, und der Vater nickte und wich Julians Blick aus. Während sie warteten, packte die Mutter den Koffer von neuem, faltete die Hemden, legte Schuhe paarweise zusammen und umwickelte sie mit Zeitungspapier. Julian setzte sich auf die Stufen. Sein Vater hatte die Augen geschlossen, noch immer bewegten sich seine Lippen, Julian hätte gerngewußt, was er da sagte. Es dauerte vierzig Minuten, bis ein weißes Auto vor der Haustür hielt, ohne Sirene oder Blaulicht, und zwei kräftige Männer seinen Vater auf eine Tragbahre hievten; der eine starrte übers ganze Gesicht grinsend an die Decke, als gäbe es dort etwas Interessantes, der andere biß sich auf die Lippen und blies die Backen auf. »Ich lasse die Koffer holen!« sagte der Vater noch. Einer der Rettungshelfer sah Julian an, zwinkerte und legte die Hand grüßend an die Stirn.
»Weißt du schon«, fragte Paul, »was du nachher werden willst?«
»Nachher?«
Paul seufzte. »Nach der Schule.«
»Ich weiß nicht.« Julian zuckte die Achseln. »Eigentlich gar nichts.«
»Da hast du Glück, das bist du schon.« Paul lächelte und Julian sah ihn an und versuchte zu begreifen, wie er das gemeint hatte. »Aber mach dir keine Hoffnungen, durchfallen wirst du nicht. Dafür sorge ich.«
Und tatsächlich, er half ihm beim Mathematiklernen. Nachmittag für Nachmittag saßen sie am Eßtisch, Julian hatte noch nie so viel Zeit mit seinem Bruder verbracht. »Zahlen. Wenn du rechnest,geht etwas mit ihnen vor. Achte einfach darauf, der Rest ergibt sich von selbst! Es ist ihr Leben, ein anderes haben sie nicht, und der einzige, der es ihnen geben kann, bist du.«
Und das half. Julian machte seinen Abschluß, bestand und begann, in Vorlesungen zu gehen. Eigentlich gefiel es ihm: Er kritzelte geistesabwesend in linierte Blöcke, kaute an seinem Bleistift und dachte, daß er wohl ebensogut hier sein konnte, im abgetragenen Mittag des Hörsaals, im öden Wabern der Stimme von Professor Kronensäuler, der über Veterings Kommentar zu Pascals Gesetz der großen Zahl sprach, vor Reihen und Reihen von Hinterköpfen, wie irgendwo sonst. Auch hier klebte Kaugummi unter den Sitzen, und vor dem Fenster bewegte sich eine Baumkrone, und auf eine beruhigende Art war es, als hätte nichts sich geändert. Neben ihm saß ein Mädchen. Sie war nicht hübsch, aber sie hatte helle und intelligente Augen, und immer wieder strich sie ihre Haare aus dem Gesicht, und das hinderte ihn daran, sich zu konzentrieren. Sie hieß Clara.
Sie gingen ins Theater, sie gingen ins Kino, sie gingen spazieren, und als ihre Eltern verreist waren, gingen sie zu ihr nach Hause. Ihre Schattenglitten an der Wand des Treppenhauses entlang, irgend etwas fiel zu Boden, eine
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