Der Findling
Martines, und bald war die ganze Familie in dem großen Mittelzimmer versammelt, wo die Großmutter auf einem alten gepolsterten Armstuhle saß.
Man zeigte ihr das Kind. Sie nahm es in die Arme und setzte sich’s auf die Knie.
Der Kleine ließ es sich gefallen. Seine Blicke wanderten von einem zum andern. Er verstand nicht, was mit ihm vorging. Jedenfalls glich das Heute nicht dem Gestern. War alles nur ein Traum? Er sah hübsche Gesichter, junge und alte um sich. Seit seinem Erwachen hatte er nur liebevolle Worte gehört. Die Fahrt auf dem schnell durch das Land hineilenden Wagen war ihm eine Zerstreuung gewesen. Gute Luft und der Morgenduft der Blumen und Büsche füllten seine Brust. Eine kräftige Suppe vor der Abfahrt hatte ihn gestärkt und unterwegs hatte er, immer an kleinen Kuchen aus der Tasche Martines nagend, erzählt, was er von seinem Leben wußte, von dem Aufenthalt in der abgebrannten Lumpenschule, von der Freundlichkeit Grips, dessen Name sehr oft über seine Lippen kam, ferner von Miß Anna, die ihn ihren Sohn genannt hatte und doch gar nicht seine Mutter war, weiter von einem sehr erzürnten Herrn, den sie den Herzog nannten, dessen Namen er aber vergessen hatte und der ihn mit wegnehmen wollte, endlich von seinem Verlassensein und wie er sich allein auf dem Friedhofe von Limerick befunden habe. Martin Mac Carthy und seine Frau verstanden von der ganzen Geschichte nicht viel, außer daß er weder Eltern noch Angehörige hatte, und daß er ein verlassenes kleines Geschöpf sei, das die Vorsehung ihrer treuen Sorge anvertraut hatte.
Gerührt umarmte ihn die Großmutter und dann auch die andern, deren Theilnahme für ihn erwachte.
»Ja, wie heißt er denn? fragte die Großmutter.
– Er konnte uns keinen andern Namen als »Findling« angeben, antwortete Martine.
– Na, er braucht keinen andern, meinte Martin; wir rufen ihn ebenso, wie er bis jetzt gerufen wurde.
– Wenn er aber einmal groß wird?… warf Sim ein.
– So bleibt er nach wie vor der Findling!« erklärte die Großmutter, die ihn mit einem herzhaften Kusse taufte.
Das war also der Empfang, den unser Held beim Eintreffen auf dem Pachthofe fand. Man nahm ihm die Lumpen ab, die er für die Rolle des Sib angelegt bekommen hatte. Dafür erhielt er die letzten Kleidungsstücke Sims, die dieser. als er im gleichen Alter war, getragen hatte und die zwar nicht neu, aber doch reinlich und warm waren. Seine Wollenjacke ließ man ihm, da er auf diese, obgleich sie allmählich zu egg wurde, viel zu halten schien.
Dann aß er, auf hohem Stuhle sitzend, mit der Familie und fragte sich, ob das alles nicht auch bald verschwinden würde. Doch nein, die Hafersuppe, die in reichlich vollem Teller vor ihm stand, verschwand nicht, auch nicht das Stück Speck mit Kohl, wovon er ein gutes Theil erhielt, ebensowenig der Eierkuchen, der unter allen redlich vertheilt wurde und den man hier mit einem Schluck ausgezeichneten »Potheens« begoß, welchen der Farmer ans der eignen Gerste durch Gährung herstellte.
Das war ein Schmaus, zumal da das Knäblein nur fröhliche Gesichter sah, außer vielleicht an dem ältesten Bruder, der immer ernst, ja fast etwas traurig erschien. Da wurden ihm die Augen feucht und Thränen glitten seinen Wangen hinab.
»Was fehlt Dir, Findling? fragte Kitty.
– Ei, warum denn weinen! setzte die Großmutter hinzu. Hier werden Dir alle gut sein!
– Und ich besorge Dir auch Spielzeug, versprach Sim.
– Ich weine ja nicht, antwortete er. Das sind keine Thränen!«
Wirklich war es nur das Herz, das dem armen Kleinen überlief.
»Nun, heute mag’s gut sein, erklärte Martin, doch gar nicht zürnenden Tones, ich sage Dir aber, mein Junge, daß es hier verboten ist, zu weinen.
– Ich werd’ es auch nicht mehr thun!« versicherte er, in die ausgestreckten Arme der Großmutter hinübergleitend.
Martin und Martine bedurften der Ruhe. Auf der Farm legte man sich im allgemeinen zeitig nieder und stand sehr früh des Morgens auf.
»Wo werden wir das Kind denn unterbringen? fragte der Farmer.
– In meiner Stube, meldete sich Sim; ich trete ihm, wie einem kleinen Bruder, die Hälfte meines Bettes ab.
– Nein, Kinder, erklärte die Großmutter. Laßt ihn bei mir schlafen, er wird mich nicht belästigen. Da kann ich ihn schlummern sehen, und das wird mir eine Freude sein.«
Ein Wunsch der Großmutter fand nie auch nur einen Schatten von Widerspruch. Neben deren Bett wurde also, wie sie es verlangt hatte, eine Lagerstatt
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