Der Findling
hager, das Gesicht glatt rasiert, die Augen wie erloschen, so sehr sind sie gewöhnt, Mißachtung auszudrücken, im Sprechen karg und trocken, repräsentiert Lord Piborne den Typus jener hochmüthigen Edelleute, die sich in den Hüllen bestaubter Pergamente vergraben und die – glücklicher Weise – selbst in dem aristokratischen Königreiche Großbritannien und Irland jetzt auf den Aussterbeetat gesetzt scheinen.
Hierzu ist nachzutragen, daß der Marquis englischer Abstammung ist und daß er keine Mesalliance einging, als er die Marquise, die schottischer Herkunft ist, zum Altare führte. Ihre Herrlichkeiten waren ganz für einander geschaffen, beide fest entschlossen, niemals von ihrem hohen Sitze herabzusteigen, und wahrscheinlich auserlesen, eine noch höher steigende Nachkommenschaft zu hinterlassen. Sie bildeten sich ohne Zweifel ein, daß Gott dereinst erst Handschuhe anlegen würde, um sie in seinem Paradiese nach Gebühr zu empfangen.
Die Thür öffnete sich, und als hätte es sich um den Eintritt einer hohen Dame in einen Empfangssalon gehandelt, meldete der Kammerdiener:
»Ihre Herrlichkeit Lady Piborne.«
Die Marquise – eine reife Vierzigerin – groß, hager, eckig, die Haare von breitem Stirnband gehalten, die Lippen dünn, die Nase aristokratisch adlerartig, die Taille schlank und die Schultern abstehend – war gewiß niemals schön gewesen; was aber die Vornehmheit der Haltung und des Benehmens, die Uebereinstimmung in Traditionen und Privilegien anging, hätte Lord Piborne gewiß keine bessere Gemahlin finden können.
John rollte einen wappengeschmückten Lehnstuhl heran, worauf die Marquise sich niederließ, und zog sich lautlos zurück.
Der vornehme Gemahl richtete das Wort an die Dame.
»Sie werden verzeihen, Marquise, daß ich Sie ersuchen lassen mußte, Ihre Gemächer zu verlassen, um mir die Gunst einer Besprechung in meinem Cabinet zu gewähren.«
Es braucht nicht Wunder zu nehmen, daß Ihre Herrlichkeiten, selbst in privater Unterhaltung, so schwulstige Phrasen drechselten. Das gehört hier einmal zum guten Ton. Und übrigens waren beide noch in der »Puder-und Perrückenschule« der früheren Gentry aufgewachsen. Nie hätten sie sich zu der Vertraulichkeit des landläufigen Geplauders herabgelassen, das Dickens im Scherze »Perrucobalivernage« genannt hat.
»Ich stehe zu Ihrem Befehl, Marquis, erwiderte Lady Piborne. Welche Frage hätten Sie an mich zu richten?
– Ich möchte, Marquise, Sie ersuchen, mir mit Ihrem Gedächtniß zu Hilfe zu kommen.
– Ich höre.
– Sind wir nicht gestern gegen drei Uhr nachmittags hier vom Schlosse weg nach Newmarket und zu unserm Attorney, Herrn Laird, gefahren?«
Der Attorney ist der bevollmächtigte Rechtsanwalt, der seinen Auftraggeber bei den Civilgerichten des Vereinigten Königreiches vertritt.
»Gewiß… gestern… Nachmittag, antwortete Lady Piborne.
– Erinnere ich mich recht, so hat Graf Ashton, unser Sohn, uns im Wagen begleitet?
– Ganz recht, Marquis, er nahm einen Platz auf dem Vordersitze ein.
– Die beiden Lakeien standen doch hinter uns auf dem Wagen?
– Ja wohl, wie das ihre Pflicht ist.
– Gut denn, antwortete Lord Piborne, der seine Uebereinstimmung durch eine leichte Kopfbewegung zu erkennen gab, dann, Marquise, erinnern Sie sich wohl auch, daß ich ein Portefeuille bei mir führte, das die Papiere betreffs des Rechtsstreites enthielt, der uns mit dem Kirchspiele bevorsteht?
– Jenes ungerechten Processes, den man die Kühnheit, die Unverschämtheit hat, uns aufzunöthigen! setzte Lady Piborne mit bezeichnender Geberde hinzu.
– Dieses Portefeuille, fuhr Lord Piborne fort, enthielt nicht allein sehr wichtige Documente, sondern auch eine Summe von hundert Pfund in Banknoten, die für unsern Sachwalter bestimmt war.
– Sie erinnern sich an alles ganz genau, Marquis.
– Sie wissen auch, Marquise, wie alles zugegangen ist. Wir sind in Newmarket angekommen, ohne die Kalesche verlassen zu haben. Laird hat uns an der Schwelle seines Hauses empfangen. Ich zeigte ihm sofort die Schriftstücke und erbot mich, das Geld bei ihm zu deponieren. Er hat darauf geantwortet, daß er für jetzt weder des einen noch des andern bedürfe, unter dem Hinzufügen, daß er selbst nach dem Schlosse kommen werde, wenn es Zeit sei, gegen die Anmaßungen des Kirchspiels aufzutreten.
– Gegen die schmählichen Anmaßungen, die früher als Attentate auf die grundherrlichen Rechte betrachtet und bestraft worden
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