Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Findling

Der Findling

Titel: Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
waren…«
    Hiermit sprach die Marquise nur eine Auffassung aus, der der Marquis in ihrem Beisein oft ganz gleichlautenden Ausdruck gegeben hatte.
    »Daraus ergiebt sich, nahm Seine Lerrlichkeit wieder das Wort, daß ich mein Portefeuille behalten habe, daß wir bald wieder in den Wagen gestiegen sind und das Schloß gegen sieben Uhr, als es bereits zu dunkeln anfing, erreicht haben.«
    Der Abend war finster gewesen, denn der Vorgang fiel noch in die letzte Aprilwoche.
    »Jenes Portefeuille, berichtete der Marquis weiter, das ich bestimmt in die rechte Brusttasche meines Pelzes gesteckt habe, kann ich nun nicht mehr finden.
    – Vielleicht haben Sie es bei der Heimkehr auf den Tisch Ihres Cabinets gelegt?
    – Das vermuthete ich auch, Marquise, habe aber vergeblich unter meinen Papieren danach gesucht.
    – Seit gestern ist doch niemand hierher gekommen?
    – Doch… John… mein Kammerdiener… dem kann ich aber vertrauen…
    – Es ist immer klug, die Leute im Verdacht zu haben, erwiderte Lady Piborne.
    – Uebrigens wär’ es möglich, fuhr der Marquis fort, daß mein Portefeuille hinter ein Kissen in der Kalesche geglitten wäre.
    – Das müßte einer der Lakeien entdeckt haben, und wenn er die hundert Pfund Sterling nicht für eine gute Prise ansah…
    – Ach, die hundert Pfund, unterbrach sie Lord Piborne, von denen will ich nicht viel reden; doch die Familienpapiere, die unsre Rechte gegenüber dem Kirchspiel nachweisen…
    – Gegenüber dem Kirchspiel, pah!« sagte Lady Piborne.
    Man hörte es, daß das Herrenhaus ans ihrem Munde sprach und daß sie die Insassen des Kirchspiels als untergeordnete Vasallen ansah, deren Ansprüche ebenso bedauernswerth, wie respectwidrig waren.
    »Wenn wir nun, aller Gerechtigkeit zum Hohne, fuhr sie fort, diesen Proceß verlieren sollten…
    – Und wir verlieren ihn ganz sicher, erklärte Lord Piborne, wenn wir jene wichtigen Acten nicht vorzulegen im Stande sind…
    – So würde das Kirchspiel in Besitz der hundert Acres Wald kommen, die an den Park grenzen und seit den Plantagenets zur Domäne der Piborne’s gehört haben?
    – Ja, Marquise.
    – Das wäre abscheulich!
    – Abscheulich, wie alles, was den Feudalbesitz in Irland antastet, jene Ansprüche der Home-rulers, die Ueberlassung des Grund und Bodens als Eigenthum des Bauern, die ganze Erhebung gegen den Landlordismus!… O, wir leben in einer seltsamen Zeit! Wenn der Lordlieutenant nicht bald Ordnung schafft, indem er die Rädelsführer der Landliga aufknüpfen läßt, weiß ich nicht… oder weiß ich vielmehr nur zu gut, wie das enden wird….«
    Da öffnete sich die Thür des Cabinets, auf deren Schwelle ein junger Mann erschien.
    »Ah, Sie sind es, Graf Ashton?« unterbrach sich Lord Piborne.
    Der Marquis und die Marquise hätten es niemals versäumt, ihrem Sohne diesen Titel zu geben, der alle von seiner Geburt ihm auferlegten Pflichten hätte zu vernachlässigen gefürchtet, wenn er darauf nicht antwortete:
    – Ich wünsche Ihnen guten Tag, Mylord, mein Vater!«
    Dann trat er auf Milady, seine Mutter, zu, der er würdevoll die Hand küßte.
    Der junge Gentleman von vierzehn Jahren hatte ein regelmäßiges, doch recht ausdrucksloses Gesicht, dessen Züge gewiß auch später an Lebhaftigkeit und Intelligenz nicht gewannen. Er war ja der natürliche Abkomme eines Marquis und einer Marquise, die sich, gut zwei Jahrhunderte hinter ihrer Zeit zurückgeblieben, jedem Fortschritte des modernen Lebens abhold erwiesen – zwei Typen aus der Periode der Cromwell, waschechte, unbelehrbare Tories alten Schlages. Der Instinct der Rasse bewirkte schon, daß dieser Knabe sich etiquettengerecht verhielt, daß er Graf blieb vom Scheitel bis zu den Zehen, obwohl ihn die Marquise sehr verwöhnt hatte und die Dienerschaft des Schlosses »abgerichtet« war, sich allen seinen Launen zu fügen. So besaß er keine, der für dieses Alter charakteristischen Eigenschaften, weder die ungebundene Beweglichkeit des Körpers, noch die Wärme des Herzens oder den Enthusiasmus der Jugend.
    Es war so ein junger Herr, der in allen, die ihm nahe kamen, nur tief unter ihm Stehende sah, dem das Mitgefühl für die Armuth abging, der zwar in allen Zweigen des Sports – dem Reiten, Jagen, Wettrennen, dem Croquett und Lawn-Tennis – schon recht bewandert, sonst aber erschreckend unwissend war, trotz des halben Dutzends von Hauslehrern, die sich vergeblich mit ihm abgemüht hatten.
    Die Zahl solcher jungen Gentlemen von hoher Geburt, die trotz

Weitere Kostenlose Bücher