Der Findling
ihrer Distinguirtheit später als klägliche Schwachköpfe durchs Leben wandern, zeigt zwar entschieden Neigung zur Abnahme. Noch giebt es deren aber genug, und der Graf Ashton Piborne gehörte unzweifelhaft zu dieser Sorte.
Er hörte jetzt von dem Verluste des Portefeuilles und erinnerte sich, daß Mylord, sein Vater, dasselbe in der Hand gehabt hatte, als er aus dem Hause des Sachwalters zurückkam, und daß er es bei der Abfahrt von Newmarket nicht in die Tasche gesteckt, sondern hinter sich auf den Wagensitz gelegt habe.
»Sind Sie Ihrer Sache sicher, Graf Ashton? fragte die Marquise.
– Ja, Milady, und ich glaube nicht, daß das Portefeuille habe aus dem Wagen fallen können.
– Dann hätte es sich also, meinte Lord Piborne, noch darin befinden müssen, als wir am Schlosse wieder eintrafen.
– Und man kommt zu dem Schlusse, daß es einer der Diener unterschlagen hat,« setzte Lady Piborne hinzu.
Dieser Ansicht war natürlich auch Graf Ashton. Er hatte gar kein Vertrauen zu solchen »Kerlen«, die immer spionieren, wenn sie nicht gar stehlen – und beides meist zusammen thun – die man das Recht haben sollte, wie einst die Leibeigenen Großbritanniens, nach Belieben auszupeitschen. Woher er etwas von »Leibeignen in Großbritannien« gehört hatte, das mochte der Himmel wissen. Er beklagte nur, daß der Marquis und die Marquise ihm keinen eignen Kammerdiener oder wenigstens einen Groom zugetheilt hatten, der würde schon die Hand des Herren zu fühlen bekommen haben u. s. w.
Das hieß rein herausgesprochen, und um eine solche Sprache zu führen, mußte man das blaue Blut der Piborne’s in den Adern haben.
John hob die faltenreiche Decke auf. (S. 210.)
Die Verhandlung lief also darauf hinaus, daß das Portefeuille gestohlen, und zwar von einem der Diener gestohlen sein werde, daß darüber eine Untersuchung angestellt und jeder, auf dem der geringste Verdacht haften bleibe, sofort der Polizei überwiesen werden müsse, da dem Lord Piborne das Recht der hohen und niedern Gerichtsbarkeit abging.
»Verzeihen Eure Herrlichkeit.« (S 218)
Der Graf Ashton drückte also auf den Knopf der Klingel, und wenige Augenblicke später erschien der Schloßverwalter vor ihren Herrlichkeiten.
Dieser Herr Scarlett, der Intendant des Lord Piborne, war der richtige Scheinheilige, eine schmeichlerische, katzenbuckelnde Persönlichkeit, der immer den grundehrlichen Mann spielte und von der Dienerschaft des Hauses bestens gehaßt wurde, da er seine Untergebenen zwar ohne Aufbrausen und Anmaßung, doch im Grunde schlecht behandelte.
Vor dem Marquis, der Marquise und dem Grafen Ashton erschien er die Unterwürfigkeit selbst, wie der niedrigste Kirchendiener vor dem ersten Geistlichen seiner Parochie.
Jetzt erzählte man ihm den Vorfall. Das Portefeuille war ohne Zweifel auf ein Sitzpolster im Wagen gelegt worden, wo es sich doch hätte wiederfinden müssen.
Das war auch die Meinung Scarlett’s, schon weil es die des Lord und der Lady Piborne war. Bei der Rückkehr des Wagens hatte er, der sich in respectvoller Entfernung von dessen Thür hielt, bei der Dunkelheit natürlich nicht sehen können, ob das Portefeuille an der vom Marquis bezeichneten Stelle lag.
Wenn Scarlett auch der Gedanke kam, die Brieftasche hätte auf die Landstraße hinaus gefallen sein können, so hütete er sich doch, das auszusprechen, da auf den Lord Piborne damit der Vorwurf der Unachtsamkeit gefallen wäre; er begnügte sich vielmehr mit der Bemerkung, daß das Portefeuille selbstverständlich hochwichtige Schriftstücke enthalten haben werde, und zwar schon deshalb, weil es die Ehre hatte, einer so vornehmen, wichtigen Persönlichkeit, wie dem Schloßherrn, zu gehören.
»Es liegt auf der Hand, versicherte dieser, daß hier eine Fundunterschlagung stattgefunden hat….
– Sagen wir gleich: ein Diebstahl, wenn Eure Herrlichkeit gestatten.
– Jawohl, ein Diebstahl, Herr Scarlett, und zwar einer, bei dem es sich nicht allein um eine nicht unbeträchtliche Geldsumme, sondern auch um Schriftstücke handelt, die alte Rechte unsrer Familie gegenüber dem Kirchspiele nachweisen.«
Wer die Physiognomie des Verwalters nicht gesehen hat, bei dem Gedanken, daß das Kirchspiel sich unterfange, überhaupt ein Recht gegen das vornehme Haus der Piborne’s geltend zu machen – eine Unverschämtheit, die zur Zeit, wo Familienprivilegien noch geachtet wurden, ganz unmöglich gewesen wäre – nein, wer die Indignation des Herrn
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