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Der Findling

Der Findling

Titel: Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Schritt zurück, nahm eine möglichst vornehme Haltung an und richtete sich dabei in seiner ganzen Länge auf.
    »Was haben Sie mir zu sagen?« fragte er.
    Er duzte ihn nicht, obwohl er noch ein Kind vor sich hatte. Als Ausfluß höchster Vornehmthuerei redete der Marquis überhaupt niemand mit »Du« an, weder die Marquise, noch den Grafen Ashton – wahrscheinlich vor fünfzig Jahren nicht einmal seine eigene Amme.
    »Sprechen Sie! setzte er hinzu.
    – Der Herr Marquis hatte sich gestern nach Newmarket begeben, nicht wahr?…
    – Ja.
    – Gestern Nachmittag?…
    – Ja wohl.«
    Scarlett wußte nicht, wie ihm geschah. Hier fragte der Gassenjunge, und Seine Herrlichkeit geruhte zu antworten!
    »Herr Marquis, fuhr das Kind fort, haben Sie da nicht ein Portefeuille verloren?
    – Ganz recht; und dieses Portefeuille…
    – Hab’ ich auf der Landstraße nach Newmarket gefunden und komme, es Ihnen abzuliefern.«
    Damit hielt er dem Lord Piborne das Portefeuille hin, dessen Verschwinden so viele Unruhe verursacht, so vielfachen Verdacht erweckt und in Trelingarcastle so viele Unschuldige compromittiert hatte. Die Schuld daran lag also, mochte sich seine Eigenliebe dadurch auch schwer verletzt fühlen, an Seiner Herrlichkeit selbst, jede Anklage gegen die Dienerschaft wurde zwecklos und es erschien jetzt – zu seinem lebhaften Bedauern – unnöthig, daß der Verwalter von Kanturk polizeiliche Hilfe herholte.
    Lord Piborne ergriff das Portefeuille, das im Innern seinen Namen und seine Adresse trug, und überzeugte sich, daß es die Schriftstücke und die Banknote noch enthielt.
    »Sie also haben dieses Portefeuille gefunden? fragte er Findling.
    – Gewiß, Herr Marquis.
    – Und haben es natürlich geöffnet?
    – Das mußt’ ich wohl, um zu erfahren, wem es gehörte.
    – Sie haben darin eine Banknote gefunden… deren Werth war Ihnen aber wohl unbekannt?
    – Das nicht; es war eine Banknote von hundert Pfund, erklärte Findling ohne Zögern.
    – Hundert Pfund… das ist so viel wie?…
    – Zweitausend Schillinge.
    – Ah, das wissen Sie also, und trotzdem fiel es Ihnen nicht ein, sich das Geld anzueignen?
    – Ich bin kein Dieb, Herr Marquis, erwiderte Findling stolz, so wenig wie ein Bettler!«
    Lord Piborne hatte das Portefeuille wieder geschlossen, die Banknote daraus aber in seine Tasche gesteckt. Der Knabe verneigte sich grüßend und that schon einige Schritte rückwärts, als Seine Herrlichkeit ihn – doch ohne ein Zeichen, daß die ehrliche Handlungsweise seine Anerkennung fand – noch einmal ansprach.
    »Welche Belohnung verlangen Sie für die Wiederbeschaffung dieses Portefeuilles?
    – Ah, was da… ein paar Schillinge… meinte Graf Ashton.
    – Oder einige Pence, das ist für den Jungen übrig genug!« beeilte sich Scarlett hinzuzufügen.
    Findling empörte es, daß man hier mit ihm handelte, wo er doch gar nichts verlangt hatte, und er erklärte deshalb:
    »Mir kommen dafür weder Pence noch Schillinge zu.«
    Dabei wandte er sich nach der Landstraße.
    »Warten Sie, rief Lord Piborne. Wie alt sind Sie?
    – Bald zehnundeinhalb Jahre.
    – Und Ihr Vater… Ihre Mutter?…
    – Ich habe keinen Vater und keine Mutter.
    – Ihre sonstigen Angehörigen?
    – Ich habe auch keine solchen.
    – Woher kommen Sie überhaupt?
    – Von der Farm von Kerwan, wo ich vier Jahre gewesen bin und die ich vor vier Monaten verlassen mußte.
    – Weshalb denn?
    – Weil der Farmer, der mich aufgenommen hatte, von den Gerichten vertrieben wurde.
    – Kerwan… Kerwan… murmelte Lord Piborne. Ich glaube, das gehört ja zu dem Grundbesitze von Rockingham?
    – Eure Herrlichkeit täuschen sich nicht, sagte der Verwalter.
    – Und was denken Sie nun zu beginnen? wendete sich der Marquis wieder an Findling.
    – Nun, ich kehre nach Newmarket zurück, wo ich mir bis jetzt mein Brod verdiente.
    – Wollen Sie hier im Schlosse bleiben, so können Sie wohl in einer oder der andern Weise Beschäftigung finden.«
    Das war gewiß ein verlockendes Angebot. Vom Herzen war es dem hochmüthigen, gefühllosen Lord Piborne aber keineswegs eingegeben, und von einem Lächeln oder einer Freundlichkeit war es auch nicht begleitet.
    Findling empfand das ganz gut, und statt schnell zu antworten, begann er erst zu überlegen. Was er bisher vom Schlosse Trelingar gesehen hatte, gab ihm zu denken.
    Er fühlte sich nicht angezogen von Seiner Herrlichkeit und von dessen Sohne Ashton, der recht spöttische, widerwärtige Züge besaß, und noch viel

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