Der fingerkleine Kobold
er
habe selber schuld. Man sagt nicht alles, was man denkt, hast du gesagt."
„Ja? Ja? Ja?“, sagte Herr Rose schnell hintereinander. Dann
machte er: „Hm, hm, hm." Und dachte lange nach. Schließlich fragte er:
„Was hat er denn geschwindelt?"
Die Mutter zählte auf: „Die Hausaufgaben in Mathe konnte er
einmal nicht anfertigen, weil die Katze sein Mathematikbuch fortgetragen hatte
und er es erst am nächsten Morgen wiederfand, ein anderes Mal, weil er
Kopfschmerzen und hohes Fieber hatte, ein drittes Mal, weil er mit seiner
Mutter den ganzen Nachmittag lang einkaufen musste. Von alldem stimmt nichts,
gar nichts!“, rief Frau Rose. „Wenn er eine Frage nicht beantworten kann, weil
er nicht aufgepasst hat, findet er immer wieder andere Ausreden: Einmal saß ein
seltsamer, silbergoldener Vogel auf dem Fensterbrett, ein anderes Mal flogen
gerade sieben Schwäne vorbei mit Goldkronen auf den Köpfen, ein drittes Mal hat
er ganz deutlich eine Hexe durchs Fenster schauen sehen.“
„Ach, ach, ach", sagte Herr Rose erschrocken.
„Er liest zu viele Märchen“, sagte Frau Rose. „Wir müssen da
einen Riegel vorschieben."
„Ja, ja, ja", sagte Herr Rose. „Und zwar sofort."
ALS DRITTES: ÄRGER AM MORGEN
Als Christoph aufwachte, fiel ihm sofort ein, dass heute
Mittwoch war, dass die Pioniergruppe am Nachmittag zu den Kindergartenkindern
gehen würde, über die sie die Patenschaft übernommen hatte, und dass er,
Christoph Rose, den Kindergartenkindern ein Märchen erzählen sollte. Er hatte
gestern lange überlegt, welches Märchen er erzählen könnte, und sich dann für
das „Goldene Schachbrett" entschieden. Bevor er nun aufstand, dachte er
noch rasch über das Märchen nach, und da wusste er nicht mehr: Hatte Peter mit
seinem Grundherrn zuerst um die Schafe oder zuerst um die Kühe gespielt?
Schnell sprang Christoph aus dem Bett und lief zu seinem Bücherbord.
Aber das Bücherbord war fast leer.
Wenn man von Christophs Büchern die Märchenbücher fortnahm,
blieben nur fünf oder sechs Bücher übrig. Märchenbücher hatte er sehr viele.
Nein, Märchenbücher hatte er gar keine mehr. Nicht ein
einziges. Christoph lief im Schlafanzug und barfuß in die Küche und rief: „Wo
sind denn meine Märchenbücher?"
In der Küche war nur noch die Mutter. „Zieh deine Hausschuhe
an", sagte sie.
„Und wo sind meine Märchenbücher?"
„Zieh deine Hausschuhe an."
Nun heulte Christoph, fast so laut wie die Sirene im
Betrieb. War das etwa eine Antwort auf seine Frage?
Er zog seine Hausschuhe an und heulte noch lauter.
„Deine Märchenbücher haben die sieben Schwäne geholt, die
mit den Goldkronen auf den Köpfen", sagte die Mutter.
Christoph stellte die Sirene sofort ab. „Mensch, das fetzt
ein", sagte er.
„Lass das dumme Gerede", sagte Frau Rose streng. „Deine
Märchenbücher kommen erst dann zurück, wenn du keine Vieren mehr hast und
höchstens zwei Dreien und wenn du dir das Schwindeln abgewöhnt hast. Termin:
Zeugnis am Schuljahresende."
„Du hast aber eben auch geschwindelt!“, sagte Christoph
wütend, „Das mit den sieben Schwänen, das war ge —"
Da bekam er eine Ohrfeige.
Er sah die Mutter erschrocken und ohne zu weinen an. Er
sprach in der nächsten halben Stunde, während er sich wusch, anzog, seine Tasse
Milch trank und ein Brötchen aß, kein Wort. Er sagte auch nicht auf
Wiedersehen, als er um sieben Uhr, den Ranzen auf dem Rücken, zur Tür
hinausging. Da wollten zwei Tränen aus seinen Augen herausrollen, aber er
erlaubte es ihnen nicht, sondern pfiff im Treppenflur laut vor sich hin. Er
pfiff das Lied vom kleinen Hänschen, das in die weite Welt hineinging.
Er ging nicht den Weg zur Schule, sondern den zur
Straßenbahn. Er suchte lange in seinen Taschen, er fand drei Fahrscheine. Er
stieg in eine Bahn der Linie 3.
Die Straßenbahn war sehr voll, denn um diese Zeit fuhren
viele Menschen zur Arbeit. Christoph stand eingeklemmt zwischen zwei Frauen.
Als er sich umdrehen wollte, stieß er der einen Frau seinen Ranzen in den
Bauch. „Junge, Junge", fing die Frau zu schimpfen an, „kannst du denn
nicht stillstehen oder den Ranzen abnehmen?" Christoph antwortete nicht,
aber er stand nun still.
Nach drei Stationen wurde die Straßenbahn leerer. Nach sechs
Stationen saß er als einziger in der Bahn, die siebente Station war die
„Schleife", die „Schleife" lag schon im Wald.
Als Christoph aussteigen wollte, kam der Straßenbahnfahrer
aus seinem Abteil heraus und sah ihn aus
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