Der fingerkleine Kobold
geteilt hast, will ich dich nun
belohnen."
Sie ist doch eine Fee, entschied Christoph und sah gespannt
auf das Kästchen.
„In diesem Kästchen", fuhr die Alte fort, „ist jemand,
der dein Freund sein wird. Er soll dir helfen, deine Märchenbücher
wiederzubekommen."
Sie gab Christoph das Kästchen. Er nahm es vorsichtig in die
Hand und besah es von allen Seiten. Es war ganz leicht. Er traute sich nicht,
es zu öffnen. Da bekam das Kästchen Gewicht, so plötzlich, dass Christoph es
beinahe fallen gelassen hätte. Erschrocken sah er auf — die seltsame Frau war
verschwunden.
„Dacht ich’s mir doch", murmelte er vor sich hin.
„Donnerwetter!“
ALS FÜNFTES: DER KOBOLD IM KÄSTCHEN
Ganz langsam hob Christoph den Deckel des Kästchens. Vor
Verwunderung wurden seine großen blauen Augen noch größer und blauer. In dem
Kästchen lag, zusammengekringelt wie eine junge Katze, ein fingerkleines
Männlein. Es hob den Kopf, stand auf, reckte sich und begann zu wachsen, von
Sekunde zu Sekunde wurde es größer, schon hatte es keinen Platz mehr in dem
engen Kästchen, kletterte hinaus auf die Bank, wuchs und wuchs immer weiter,
bis es so groß war wie Christoph. Dann sprang es von der Bank und setzte sich
neben Christoph. „Du kannst deinen Mund wieder zumachen", sagte es.
Christoph gehorchte und besah sich das Männlein. Es hatte
eine lustige, nach oben gebogene Nase wie ein Kasperle, listige schwarze Augen,
einen dunklen, struppigen Bart, ebenso dunkle, ebenso struppige Haare. Es trug
einen feuerroten Anzug mit goldenen Knöpfen. Es versuchte, mit beiden Händen
seine struppigen Haare zu glätten, machte ein bekümmertes Gesicht und sagte:
„Sie wollen und wollen nicht anständig liegen. Darum heiße ich Strups.“
Christoph sagte höflich: „Christoph Rose.“
Strups lachte. „Das weiß ich natürlich", sagte er. „Ich
wurde doch zu dir geschickt."
„Wo kommst du denn her?", fragte Christoph.
„Aus dem Märchenland natürlich", sagte Strups. „Ich bin
ein Kobold."
„Und wer hat dich geschickt?", wollte Christoph wissen.
„Dieser Peter", sagte Strups, „der seinen Grundherrn im
Schachspiel besiegt und später die spanische Prinzessin geheiratet hat, falls
du dich daran erinnerst."
„Ja, natürlich erinnere ich mich“, rief Christoph erfreut,
„das ist doch eins meiner liebsten Märchen! Schön, dass der Peter mir keinen
Riesen und keinen Erwachsenen geschickt hat, sondern einen, der genauso klein
ist wie ich. Ich finde es schrecklich, dass die Erwachsenen so groß sind. Und dann
wundern sie sich, wenn man ihnen den Ranzen in den Bauch stößt. Wenn sie sich
wenigstens bloß wundern würden. Aber sie müssen immer gleich schimpfen.“
Strups nickte verständnisvoll. „Wenn ich will, kann ich auch
noch weiter wachsen", sagte er. „Aber eben wollte ich genau auf
einhunderteinunddreißig und einen halben Zentimeter wachsen, weil du auch so
groß bist."
„Darfst du immer bei mir bleiben?", fragte Christoph.
Strups lachte. „Das liegt an dir“, sagte er. „Drei
Bedingungen, mein Lieber: Du darfst nicht mehr lügen. Du darfst niemandem von
mir erzählen. Du musst am Schuljahresende ein gutes Zeugnis bekommen.“
Da schüttelte Christoph traurig den Kopf. „Unmöglich",
sagte er. „Das kann ich nicht. Nie mehr lügen? Das geht bei mir nicht. Wie
stellst du dir das vor?"
„Ganz einfach!", rief Strups. „Du sagst eben immer das,
was du für wahr hältst. Natürlich musst du sehr aufpassen, denn weil du dich an
das Schwindeln schon gewöhnt hast, merkst du vielleicht nicht mehr, wenn du
etwas Unwahres sagen willst."
„Man kriegt doch nichts wie Ärger", rief Christoph
böse, „wenn man immer sagt, was man denkt. Das hab ich sogar mal von meinem
Vati gehört!“
Der Kobold zwinkerte listig mit seinem linken Auge. „Pass
auf, was ich dir jetzt sage", flüsterte er. „Es kann schon mal passieren, dass
man Unannehmlichkeiten kriegt, wenn man die Wahrheit sagt. Aber man sollte es
trotzdem tun, vor allem, wenn man noch so klein ist wie du — erst einhunderteinunddreißig
und einen halben Zentimeter! Denn man wächst dadurch jedes Mal einen
Zentimeter!"
„Ah!", machte Christoph erstaunt und rutschte vor
Freude auf der Bank hin und her. Plötzlich wurde er wieder traurig, „Aber mit
den Zensuren", sagte er leise, „das wird nicht gehen, was?"
„Und warum nicht?", fragte der Kobold. „Kannst du nicht
einfach aufhören, in den Unterrichtsstunden an Märchen zu denken? Märchen
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