Der Fliegende Holländer
sich dieser arme Trottel in den Kopf gesetzt, daß, auch wenn ein einziger Sturz aus dieser Höhe nicht unbedingt mit tödlichem Ausgang enden mußte, wiederholte Bruchlandungen zumindest eine tiefe Rißwunde in seiner unverwundbaren Haut hinterlassen könnten, was ihm die endgültige Entlassung einbringen würde, nach der er sich so sehr sehnte. Wenigstens verschaffte er auf diese Weise dem Schiffszimmermann gelegentlich Arbeit, denn bei besonders unsanften Landungen schlug er mitten durch die Decksbeplankung hindurch.
›Der Stein der Weisen gefunden?‹ las der Kapitän. ›Durchbruch auf dem Gebiet radioaktiver Isotopen bietet Einblick in die Umwandlung von Materie.‹ Vanderdecker schluckte kräftig und nahm die Füße vom Tisch. Wahrscheinlich handelte es sich um denselben alten Blödsinn, den er schon Ende der siebziger Jahre gelesen hatte, aber immerhin bestand die Möglichkeit, daß etwas Neues darin enthalten war.
›Es geht das Gerücht, daß Experimente im britischen Atomreaktor in Dounreay zu einer Neubewertung einiger grundlegender Aspekte auf dem Gebiet der nuklearen Forschung führen werden‹, war in dem Artikel des Scientific American zu lesen. ›Falls die kürzlich von den Physikern Marshmain und Kellner veröffentlichten Ergebnisse durch die Dounreayer Testreihe bestätigt werden, sollte sich selbst der letzte Alchimist endlich von den Fesseln des Okkultismus befreien können und sich hurtig in die europäischen Forschungs- und Entwicklungszentren begeben. Der Koordinator dieses neuen Programms, Professor Montalban von der Universität Oxford, hat …‹
Montalban. Um Himmels willen, Montalban!
In seinem mehr als vierhundert Jahre währenden Leben hatte Vanderdecker gegenüber Zufällen eine merkwürdig zwiespältige Einstellung angenommen; manchmal glaubte er daran, manchmal auch nicht. Zwar kommt der Name Montalban relativ selten vor, ist aber andererseits auch nicht so ausgefallen, daß man davon ausgehen konnte, ihm im Verlauf von vierhundert Jahren nicht öfter als einmal zu begegnen. Schon schwieriger war es, eine Erklärung dafür zu finden, warum im selben Artikel das Wort ›Alchimist‹ auftauchte, und Vanderdecker mußte sich in Erinnerung rufen, daß nach dem Zufallsprinzip irgendwann selbst jeder Affe Hamlet in die Schreibmaschine hämmern würde, wenn man ihm nur genug Zeit dazu ließe, bevor er selbst wieder in der Stimmung war, mit dem gebotenen Mißtrauen weiterzulesen. Mittlerweile war die Lampe in der Kabine ausgegangen, und anstatt Zeit damit zu verschwenden, sie mit seinem echten, aber schrottreifen Zippo-Feuerzeug wieder anzuzünden, begab er sich an Deck und überließ ausnahmsweise einmal der Sonne die Arbeit. Um die Stelle nicht zu verlieren, hielt er die Zeitschrift mit dem Zeigefinger zwischen den Seiten fest. Dann kletterte er die Leiter hinauf und stieg genau in dem Augenblick aus der Luke, als Sebastian van Doorning gerade seinen neunten Absturz des heutigen Tages absolvierte.
Vanderdecker wurde zur Seite gestoßen und landete in einem Haufen aufgerollter Taue. Als er wieder auf die Beine kam, sah er, wie der Scientific American von einer Windböe in die Luft gehoben wurde und von ihr ordentlich auf dem Atlantischen Ozean abgelegt wurde.
»Sebastian!« schrie Vanderdecker.
Der fliegende Mastspringer, der sich gerade verlegen von Deck stehlen wollte, erstarrte vor Schreck und stammelte: »Ja, Käpt’n?«
»Falls du auch nur noch ein einziges Mal vom Mast springst, werd ich dir das Genick brechen!« drohte ihm der Fliegende Holländer.
Die Besatzung gab sich erst gar nicht die Mühe, das Beiboot ins Wasser zu lassen, sondern sprang direkt ins Meer; dem Kapitän war einfach danach. Pieter Pretorius fischte schließlich die Zeitschrift aus dem Wasser, und man legte sie in der Sonne zum Trocknen aus. Aber es war zu spät; im Wasser hatte sich die Druckfarbe fast gänzlich aufgelöst, und die einzigen noch lesbaren Worte auf der entscheidenden Seite waren ›Montalban‹ und ›Alchimist‹.
Dirk Pretorius rechnete sofort aus, daß die Chancen für solch eine Wortkonstellation neun Millionen vierzehntausendzweihundertachtundsechzig zu eins stünden, was außer dem Kapitän alle anderen an Bord äußerst interessant fanden.
Das ist aber komisch! wunderte sich Jane.
Nun sollten Sie nicht den Eindruck gewinnen, daß Jane, nur weil sie ständig Selbstgespräche führt, nicht mehr alle Tassen im Schrank hat oder gar ein Leben in innerer Einkehr führt. Es liegt
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