Der Fluch der Hebamme
gezwungenem Lächeln. »Das Schicksal meiner Mutter und meines Vaters hat mich gelehrt, meine wahren Gedanken vor Feinden zu verbergen.«
Reinhard schüttelte kaum erkennbar den Kopf.
»Clara, ich kenne Euch besser, als Ihr ahnt. Ich habe Euch heranwachsen sehen, seit ich in die Dienste Eures Vaters trat. Ihr seid klug und habt ein tapferes Herz. Aber werdet Ihr das ertragen? Oder wird der Hass für mich, den Ihr tagsüber der Welt vorspielen müsst, Euch auch nachts vergiften?«
Das Signal für den Aufbruch der Turnierteilnehmer ersparte Clara eine Antwort. Reinhard musste gehen. Doch zuvor küsste er sie noch einmal.
Kraftprobe
D ie Schaulustigen drängten sich zu Hunderten auf dem Oberen Markt von Freiberg, um ja nichts zu verpassen. Selbst Knechte und Mägde hatten von ihren Herrschaften die Erlaubnis dazu bekommen; schließlich hatte der neue Markgraf befohlen, dass jeder Mann und jede Frau aus dieser Stadt dem Turnier zusehen sollten.
Der geschäftstüchtige Wirt des »Schwarzen Rosses«, einer Garküche in der Petersgasse nahe dem Markt, schenkte bereits seit dem frühen Morgen Bier aus einem Fass aus, das er auf einen Karren geladen hatte. Doch abgesehen von ein paar ganz Durstigen verließ nun kaum noch jemand seinen mühsam erkämpften Platz. Die meisten vertrieben sich stattdessen die Wartezeit bei einem Schwatz mit den Nachbarn. Zu besprechen gab es genug: von Mutmaßungen, wie sich wohl die Regentschaft des neuen Fürsten auf die Stadtbewohner auswirken würde, über den besorgniserregende Geschichten die Runde machten, bis zu bewundernden Beschreibungen des Kleides der Fürstin, das einige schon bei Sophias Ankunft in der Stadt oder bei dem Fest auf der Burg gesehen hatten.
Ein paar Halbwüchsige kletterten auf den Balken herum, die für das Turnier auf dem Marktplatz zusammengenagelt worden waren. Zur Belustigung der Umherstehenden jagte eine Fleischerfrau kreischend und schimpfend einen Gassenjungen über den Platz, der ihr ein Stück Speck gestohlen hatte. Doch er war viel zu flink, als dass sie ihn einholen konnte, und verschwand Richtung Erlwinsche Gasse, um seine Beute unbehelligt zu verzehren.
Ein paar Fuhrknechte riefen lautstark nach dem alten Willem, der eine Rede halten solle – einem im Kopf etwas wirren Bettler, auf dessen Kosten die halbe Stadt gern Späße trieb. Er lebte von den Almosen, die ihm Kirchgänger spendeten, und von den Hälflingen, die ihm belustigte Zuschauer zuwarfen, wenn er eine seiner närrischen Ansprachen auf dem Marktplatz hielt, die jedes Mal viel Volk zusammenriefen.
Der Alte musste sich wohl schon auf einen solchen Auftritt vorbereitet haben, denn andächtig grinsend trat er vor, blickte sich beifallheischend um und kletterte mit verblüffender Geschicklichkeit auf einen der am Morgen aufgestellten Pfosten. So stand er wie auf einer Säule, streckte die Brust raus, kratzte sich ein Stück Grind vom Schädel und reckte das Kinn vor.
Doch bevor er etwas sagen konnte, ertönten Hornsignale aus Richtung Burggasse, die das Nahen des fürstlichen Zuges ankündigten. Sofort setzte ein großes Schubsen und Drängen ein; der alte Willem war vergessen und starrte verwirrt von seiner Säule herab auf die Stadtbewohner, die ihm plötzlich den Rücken zuwandten.
Das Gedränge löste sich sofort auf, als die ersten Reiter aus der Burggasse zum Marktplatz einschwenkten: zwei Dutzend Männer in Kettenpanzern, deren Aufgabe es war, für die Nachfolgenden Platz zu schaffen. Erschrocken wichen die Menschen vor den dicht nebeneinander trabenden Pferden und waffenstarrenden Reitern zurück. Einen Wimpernschlag später rannte die eben noch schiebende und drängelnde Menge wild auseinander. Auch Willem kletterte hastig von seiner Säule und verschwand im Gewühl.
Im Nu hatten die Berittenen Platz geschaffen. Ihnen folgten vier Dutzend Bewaffnete zu Fuß, die sich rund um den Oberen Markt aufreihten.
Nachdem auf diese Weise das Turnierfeld abgegrenzt war, legte sich erwartungsvolle Stille über die Zuschauer. Mancher verrenkte sich beinahe den Hals, um zur Einmündung der Burggasse sehen zu können. Von dort würden der junge Markgraf, seine Gemahlin und die Ritter, die das Turnier bestritten, kommen.
Endlich ertönten erneut Hornsignale, und nun konnten die Wartenden das Klappern der Hufe von unzähligen Pferden hören.
»Macht den Weg frei für den Herrscher der Mark Meißen!«, rief der erste Reiter, der um die Ecke bog, ein Ritter in kostbarer Rüstung mit dem
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