Der Fluch des Denver Kristoff
mich das Buch durch seine Kraft am Leben erhalten kann, ist das nicht mehr wert als die Hülle der menschlichen Erscheinung?«
»Es geht nicht allein darum, was es mit deinem Körper anrichtet«, entgegnete Kristoff. »Das Buch wird auch an deiner Seele nagen, bis nur noch ein winziger Hauch von Gutem, ein kleiner Fetzen Menschlichkeit übrig bleibt, vergraben unter reiner Bosheit und Finsternis. Deshalb habe ich geschworen, dich davor zu schützen! Ich habe dich so sehr geliebt, dass ich sogar die arme Penelope Hope umgebracht habe, um dich vor dem Buch zu bewahren!«
Dahlias Stimme wurde auf einmal süß und schmeichelnd. »Weißt du noch, Daddy, wie wir das Buch zum ersten Mal zusammen benutzt haben? Du hast jeden meiner Wünsche aufgeschrieben und zwischen die Seiten gelegt … und ich habe all diese wunderbaren Geschenke bekommen … weißt du noch, wie glücklich ich war. Weißt du noch, wie glücklich wir waren?«
Das schien den Sturmkönig ein wenig zu besänftigen. Daddy – so hatte Dahlia ihn schon seit vielen, vielen Jahren nicht mehr genannt.
»Das war ein Fehler«, räumte er ein. »Ich hätte dir niemals zeigen dürfen, welche Macht in diesem Buch steckt …«
»Aber es sind die schönsten Erinnerungen meines Lebens. Wie durch die Macht des Buches meine Träume wahr wurden und wie wir alle schlechten Dinge haben verschwinden lassen. Warum vergessen wir beide nicht einfach alles und gehen nach Hause, zurück in die Villa Kristoff? Die Eltern habe ich schon aus dem Weg geräumt; das Gleiche könnten wir mit den Kindern machen … Wir hätten das Haus wieder ganz für uns allein, nur dass wir das Buch jetzt gemeinsam nutzen würden … und bis in alle Ewigkeit herrschen.« Dahlia machte eine kleine Pause, dann fügte sie sanft hinzu: »Ich habe dich immer noch lieb, Daddy.«
Der Sturmkönig erzitterte, als könne er sich nicht mehr erinnern, wann jemand zu ihm gesagt hatte, dass er ihn liebte. Eleanor dachte schon, er würde gleich in Tränen ausbrechen …
Doch Dahlia starrte plötzlich auf den Fetzen Papier, der in Brendans Blutlache auf dem Schiffsdeck klebte. Der liebevolle Ausdruck in ihren Augen machte einem viel stärkeren Verlangen Platz: purer Gier. Der Sturmkönig folgte ihrem Blick.
»Was ist das?«, fragte er argwöhnisch.
Eleanor sah zu dem Buch des Verderbens und Verlangens, das noch immer dort in der Steinschatulle lag. Ein Gedanke schoss ihr plötzlich durch den Kopf. Doch sie hatte nicht viel Zeit. Die schwarze Wolke über dem Sturmkönig verdichtete sich. Gleich rastet er aus.
»Sei nicht so schwach, Daddy. Lass uns das Buch gemeinsam …«
Der Sturmkönig ließ einen langen, dünnen Wolkenfetzen über das Deck der Muräne wehen, wie eine Ranke schlang er sich um das kleine Stück Papier …
»Nicht doch, Daddy. Schau nicht auf das …«
Doch ihr Vater hörte nicht auf sie, er griff sich das Papier aus der Luft, schüttelte die Blutstropfen ab und begann zu lesen.
»Ich wusste es!«, brüllte er. »Du kannst gar keine Liebe empfinden, weder für mich noch für irgendeinen anderen. Für dich zählt nur dieses Buch!« Mithilfe der kleinen schwarzen Wolke zerriss er das Papier in kleine Fetzen und löste einen wilden Aufschrei der Windfurie aus:
»WIE KANNST DU ES WAGEN, MEINE TRÄUME ZU ZERSTÖREN?«
Wie eine Wahnsinnige drehte die Windfurie mit den Armen im Kreis, eine Riesenwelle hob sich aus dem Fluss und schwappte über das Deck.
»EIN SCHWÄCHLING BIST DU, VATER!«, kreischte Dahlia, breitete ihre Flügel aus und schwang sich hinauf zum Hauptmast. »ZU SCHWACH FÜR DIE WAHRE MACHT! UND DU LÄSST ES AN MIR AUS!«
Die Welle spülte den Sturmkönig gegen die Reling und schlug über ihm zusammen, er versank in der sprühenden Gischt. Wie Puppen wurden die bewusstlose Cordelia und der blutende Brendan von den Wassermassen hin und her geworfen. Eleanor war nirgends zu sehen.
Mit einem kräftigen Hieb teilte der Sturmkönig die Flut und schoss wie ein Torpedo hinauf zur Mastspitze. Er brauchte nicht einmal Flügel.
Ein blauer Blitz schoss ihm aus Gesicht und Händen und brachte die Luft um ihn herum zum Glühen. Die Windfurie hielt mit einem ihrer eigenen Blitze dagegen. Die Explosion fegte den Sturmkönig vom Himmel und er stürzte taumelnd hinunter aufs Schiff. Die Windfurie schwang sich hinauf in die schwarze Wolke über der Muräne .
Auf Deck versickerte das Wasser allmählich zwischen den Holzplanken. Als Brendan wieder zu sich kam, lag er neben Cordelia. Nicht weit
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