Der Fluch des Denver Kristoff
vor, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wo und in welchem Zusammenhang er ihr begegnet war. Sie zermarterte sich das Hirn, als sie den nächsten Raum betraten und Cordelia bereits am Geruch erkannte, um was für eine Art Zimmer es sich handelte: Eine Mischung aus Staub, modrigem Papier und alter Druckerschwärze kitzelte verräterisch ihre Nase.
»Willkommen in der Bibliothek«, sagte Diane.
Es war einfach überwältigend. Rundherum an den Wänden ragten meterhohe Mahagoniregale bis hoch unter die gewölbte Decke. Die oberen Regalbretter erreichte man über zwei Messingleitern, die an einer umlaufenden Metallschiene hin- und hergeschoben werden konnten. Auf dem massiven Eichentisch in der Mitte des Raumes verströmten mehrere Schreibtischlampen mit grünen Glasschirmen ein eigenartig gedämpftes Licht. Vereinzelt glitzernde Staubpartikel schwebten darüber in der Luft wie Vögel im Wind.
Die vielen Bücher in den Regalen zogen Cordelia magisch an. Das taten Bücher immer. Als sie den Titel auf dem ersten Buchrücken entzifferte, wusste sie auch wieder, wo sie von diesem Mr Kristoff schon einmal gehört hatte.
5
C ordelia konnte immer und überall lesen. So auch auf der Autofahrt über die hügeligen Straßen San Franciscos zur Sea Cliff Avenue hundertachtundzwanzig, eingeklemmt zwischen ihren beiden Geschwistern, während Eleanor mit ihrer Leseschwäche und dem Navigationsgerät kämpfte. »Sich in einem Buch zu verlieren, ist das Beste überhaupt«, behauptete ihre Mutter immer und Cordelia hatte den Verdacht, dass ihre Großmutter das Gleiche zu Bellamy gesagt hatte, als diese noch ein junges Mädchen gewesen war.
Cordelia hatte sehr früh angefangen zu lesen und ihre Eltern damit manches Mal in seltsame Situationen gebracht. Schon mit vier Jahren hatte sie in einem feinen Restaurant einer älteren Dame über die Schulter geschaut und laut aus der Zeitung vorgelesen. »Das Baby kann lesen!«, hatte die Frau entsetzt ausgerufen. Mit zunehmendem Alter hatte Cordelia sich dann durch die komplette Literatur ihrer Eltern gelesen, all die dicken, in Leder gebundenen Bände der Oxford-Bibliothek der Weltliteratur. Im Augenblick interessierte sie sich besonders für nahezu unbekannte Autoren, die nur in Erstveröffentlichungen oder alten, vergriffenen Taschenbuchausgaben zu lesen waren, Autoren wie Brautigan, Paley und Kosinski. Je unbekannter, desto besser. Jedes Mal, wenn sie das Werk eines Schriftstellers las, von dem noch kaum jemand gehört hatte, gab es ihr das Gefühl, ihn dadurch am Leben zu halten, wie eine Art intellektuelle Herz-Lungen-Reanimation. In der Schule gab es manchmal Ärger, wenn sie ihre Lektüre mit einem Schulbuch getarnt in den Unterricht schmuggelte (nur Miss Kavanaugh schien es nicht zu stören). Im letzten Jahr hatte sie einen Schriftsteller entdeckt, von dem Robert E. Howard und H. P. Lovecraft behaupteten, dass er sie beeinflusst hätte. Er hatte im frühen zwanzigsten Jahrhundert zahlreiche Abenteuerromane veröffentlicht, ein Vielschreiber.
»Denver Kristoff«, las sie also von einem Buchrücken ab. »Diane, war der Kristoff, der dieses Haus gebaut hat, Denver Kristoff, der Schriftsteller?«
»Genau der. Hast du schon von ihm gehört?«
»Noch nie etwas von ihm gelesen, aber schon viel von ihm gehört. Seine Bücher sind schwer aufzutreiben, nicht mal bei eBay. Hauptsächlich Fantasyromane und Science Fiction … er hatte entscheidenden Einfluss auf die Leute, die später Conan der Barbar oder unsere moderne Vorstellung von Zombies geprägt haben. Wurde allerdings von den Literaturkritikern ziemlich zerrissen …«
Als Brendan übertrieben gähnte, unterbrach sie beleidigt ihren Redefluss. »Lass das!«
»Tut mir leid, ich bin allergisch gegen Bücherfreaks.«
Cordelia ignorierte seine Bemerkung demonstrativ. »Dad, wir könnten im Haus eines berühmten unbekannten Schriftstellers wohnen!«
»Ich werde es in meine Überlegungen mit einbeziehen.«
Diane setzte ihren Rundgang fort (Dr. Walker musste Cordelia beinahe gewaltsam aus der Bibliothek zerren) und führte sie in eine überraschend moderne, noch vollkommen unberührt aussehende Küche mit chromblitzenden Armaturen und modernster Technik. Ein Ort, an dem sich Bakterien vor lauter Angst erst gar nicht über die Schwelle wagten. An einer Magnetschiene über dem Herd prangte eine beeindruckende, der Größe nach geordnete Messersammlung.
»Können wir hier Kekse backen?«, fragte
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