Der Fluch von Colonsay
Grausamkeit der Eltern und der damals herrschenden Sitten auseinandergebracht worden. Die Grundbesitzertochter Ambrosine konnte niemals einen Pferdepfleger wie Jonah heiraten, der dazu noch von Ureinwohnern abstammte. Da spielte es keine Rolle, dass ihr Vater verarmt war und kein Geld hatte. Es wäre einfach undenkbar gewesen. Und so heiratete sie Cosmo.
Doch das Schicksal brachte sie wieder zusammen. Vielleicht hatte Jonah auch geplant, ihr durch den Wechsel der Arbeitsstelle wieder näherzukommen. Jedenfalls begann er für Cosmo zu arbeiten, und der nahm ihn mit in den Süden. Nach Colonsay. Zu Ambrosine. Und alles begann vor vorn.
Rosamund stellte sich vor, wie Ambrosine nachts aus dem Haus schlich, um ihren Geliebten zu treffen. Hatte sie sich die Zeit genommen, ein Kleid und Schuhe anzuziehen? Oder war sie ungeduldig gewesen, barfuß durch das nasse Gras gerannt, umweht von ihrem seidenen Nachtgewand?
Tränen brannten in Rosamunds Augen, aber sie blinzelte sie weg. Es war vorbei, alle waren schon lange tot. Und ruhten in Frieden, wie sie hoffte. Mit einem Seufzen überflog sie erneut Meggys Worte. Da kam ihr eine Idee.
Eine Stunde später fand Gary sie so vor. Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie. Sein Gesicht und seine Hände waren voller Farbspritzer. Er strich gerade die Wände der Schlafzimmer im Westflügel. Sofort fiel ihm der verträumte Ausdruck in ihren Augen auf. »Was ist los?«
Rosamund reichte ihm Meggys Brief und wartete, während er las. Als er fertig war, sah er sie mit einem tiefen Ausatmen an.
»Also war es Adas Schuld. Sie hat es Cosmo gesagt, und er ist ausgerastet. Kein Wunder, dass sie nicht aus Colonsay fortgehen konnte. Sie war sowohl durch ihre Schuld als auch durch ihre Liebe an diesen Ort gebunden.«
»Ja, das ist wahrscheinlich richtig. Aber mir kommt es falsch vor, ihr alles anzulasten. Schließlich war sie noch ein Kind, ein kleines Mädchen. Wahrscheinlich hatte sie Angst und verstand nicht, was geschah. Wie konnte jemand von ihr erwarten, darüber ihr Leben lang Stillschweigen zu bewahren? Ambrosine hätte Colonsay verlassen müssen, solange sie die Gelegenheit dazu hatte. Eine Flucht mit Jonah wäre das Ende der Geschichte gewesen.«
»Eine Flucht war damals kaum vorstellbar. Es hätte einen Riesenskandal gegeben.«
»Ich weiß. Ich glaube, sie konnte es nicht. Sonst wäre sie mit ihm fortgegangen, als ihr Vater die Heirat mit Cosmo arrangierte. Das war ihre Chance, und sie ließ sie vorüberziehen.«
»Nicht alle besitzen deine innere Stärke.«
Rosamund verzog das Gesicht, besann sich dann aber anders. »Mir ist noch etwas aufgefallen, als ich Meggys Brief las. Was ist mit Jonah? Meggy scheint zu glauben, Ada wüsste, wo er begraben liegt. Er muss damals also schon tot gewesen sein. Erinnerst du dich noch an die Liste deines Großvaters mit den Namen der Dienstboten? Da stand Jonah nicht drauf. Also muss auch er zwischen dem Zeitpunkt von Ambrosines Tod und dem August 1901 gestorben sein.«
Gary wollte sich setzen, erinnerte sich dann aber an die Farbspritzer. »Du denkst, wenn er ganz normal gestorben wäre, hätte seine Schwester das gewusst.«
»Ja.« Rosamund sah ihn an.
»Du weißt also, wo er ist, oder?«
»Ich glaube schon.« Sie griff in die Kiste und nahm einen vergilbten Zeitungsausschnitt heraus. »Erinnerst du dich an das Haushaltsbuch, das mir Sue Gibbons geliehen hat? Ich habe es heute durchgeblättert, und dabei ist mir dieser Ausschnitt eingefallen, den ich nie gelesen habe. Darin geht es um die Leiche, die sie beim Trockenlegen des Sumpfgeländes in den Sechzigerjahren gefunden haben. Schau, da!« Sie deutete auf die entsprechende Zeile.
»Das einzige Kleidungsstück, das noch identifiziert werden konnte, war ein Paar brauner Reitstiefel«, las Gary laut und blickte sie dann fragend an.
Rosamund suchte wieder in der Kiste und gab ihm dann eine zerknitterte, verblasste Rechnung.
»Ein Paar handgenähter Männerreitstiefel, braun, zehn Guineen. Für Ambrosine Cunningham.« Gary hob die Augenbrauen. »Meinst du, das war Cosmos Leichnam? Ich dachte, er wäre ertrunken.«
»Ist er auch. Bei der Leiche handelte es sich natürlich um Jonah. Ambrosine schenkte ihm die Stiefel zu Weihnachten. Reitstiefel, weil er Pferdepfleger war. Das wäre niemandem komisch vorgekommen, jedes andere Geschenk aber schon.«
Gary setzte sich jetzt doch und ignorierte dabei Rosamunds schmerzvollen Gesichtsausdruck. »Ich frage mich, was da passiert
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