Der Fluch
Geräusch, das er hörte, war sein eigener Herzschlag. Im Apartment war es unheimlich still.
Er schlug die Decke zur Seite und schlüpfte aus seinem Bett. Dann ging er zur Balkontür und blieb kurz stehen. Jetzt begriff er, warum es so dunkel in seinem Zimmer war. Düstere, fast schwarze Wolken hatten einen großen Kreis gebildet und hingen wie eine Glocke über dem hell schimmernden Lake Mirror. Es war ein merkwürdiges Bild – als ob der See sich im Himmel spiegelte.
Oben die Hölle.
Unten der Himmel.
Es war ein Schrei gewesen, da war er sich plötzlich ganz sicher.
Und er war von draußen gekommen.
David lauschte mit angehaltenem Atem. Es herrschte völlige Windstille, nicht einmal ein Zweig bewegte sich dort unten. Das war das Tal. Es beherrschte das Wetter und nicht umgekehrt.
Er dachte an Rose, die im Stockwerk über ihm im Bett lag. Diese Nacht hatte sich etwas zwischen ihnen verändert. Er erinnerte sich an die Übelkeit, die er verspürt hatte, als sie ihm von J. F. berichtete. Die Wut, die sich in ihm festgesetzt hatte.
Und dann hatte sie von Sally erzählt.
Und er konnte ihren Schmerz verstehen.
Er seufzte. Wie konnte ein Mensch das nur alles aushalten? Wie nach einem solchen Trauma einfach weitermachen? Immer verzweifelt bemüht, das Unglück in sich zu verbergen, unsichtbar für alle anderen.
Aber er wusste, wie es sich anfühlte. Wenn jemand das wusste, dann war er das. Rose war wie er.
David griff nach seinem Handy. Er musste sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging, selbst auf die Gefahr hin, dass er sie weckte. Eilig suchte er ihre Telefonnummer in seinen Kontakten.
Beim vierten Klingeln sprang die Mailbox an und er hörte Roses ruhige melodische Stimme.
»Hallo, hier spricht Rose Gardner. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe zurück, danke.«
Er wusste nicht, was war beunruhigender? Der Schrei, den er gehört hatte, oder die Tatsache, dass Rose ihr Handy ausgeschaltet hatte. Oder konnte es sein, dass sie einfach zu tief schlief, um es zu hören?
Alarmiert wählte er die Nummer zum zweiten Mal. Es läutete und läutete, doch wieder meldete sich nur die Mailbox.
Er kehrte ins Zimmer zurück und schaltete das Licht an. Dann zog er rasch seine Jeans und das T-Shirt über und steckte das Handy in die Hosentasche. Erst als er im Treppenhaus war, fiel ihm auf, dass er barfuß war. Er hatte vergessen, Strümpfe und Schuhe anzuziehen.
Im Vorraum des Apartments, das sich Rose mit Julia und Katie teilte, brannte Licht. Die Tür zu Roses Zimmer war geschlossen. Das einzige Geräusch, das er hörte, war das leise Brummen des Kühlschranks in der Küche.
David klopfte leise.
»Rose?«
Er klopfte fester.
Als er erneut keine Antwort erhielt, trat er ein. Er spürte sofort die Kälte, die durch die offene Balkontür drang.
Das Bett war leer. Keine Spur von Rose.
Schubladen und Schränke standen offen. Kleidungsstücke, Bücher, Papiere und Schmuck lagen überall verstreut herum. Cremedosen waren auf dem Schreibtisch verteilt. Unterwäsche hing über der Lehne des Stuhls. Im geöffneten Schrank sah er Schuhe und Stiefel, sie lagen kreuz und quer durcheinander. Das ganze Chaos war so untypisch für Rose, dass die Frequenz seines Herzschlags das absolute Limit erreichte.
Jemand hatte das ganze Zimmer durchsucht und dabei nicht einmal vor dem Kosmetikkoffer haltgemacht. Und ihr Koffer lag geöffnet am Boden.
Er war so ein Idiot!
Ein gottverdammter Idiot. Er hätte es besser wissen müssen. Er hätte nicht auf Rose hören sollen, die seine Hilfe kategorisch abgelehnt hatte. Da waren sie wieder. Die Schuldgefühle und der Wunsch, im Nachhinein etwas anders gemacht zu haben. Er spürte seine eigene Hilflosigkeit und die Angst davor, zu spät zu kommen.
Doch am deutlichsten fühlte er Wut.
Er war wütend. Auf Rose, dass sie verschwunden war, ohne ihn zu benachrichtigen, und auf sich selbst, weil er sie alleine gelassen hatte.
David zog das Handy hervor und wählte erneut Roses Nummer. Doch wie bereits zuvor meldete sich nur die Mailbox.
Wie sollte er sie finden?
Sie konnte überall sein.
Überall.
Ein Wort, das ihn lähmte. Überall bedeutete nirgends.
Wieder erinnerte er sich an das Geräusch, das ihn geweckt hatte und das von draußen gekommen war. Es war der einzige Anhaltspunkt. Er trat durch die offene Balkontür. Die Holzbohlen hatten die Kälte und die Feuchtigkeit der langen Nacht gespeichert. Seine Füße wurden augenblicklich eiskalt.
Er blieb eine ganze Weile
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