Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
und Gut um sie herum verteilt. Der Gedanke ließ sie sich aufrichten.
Das gesamte Hab und Gut … Hatte Marius überhaupt daran gedacht, Geld mitzunehmen?
Sie stöhnte leise, weil sie nicht gleich daran gedacht hatte, langte hinüber zu seinem Rucksack und öffnete das Außenfach. Die Geldbörse fehlte, und sie atmete erleichtert auf. Auch sein Handy hatte er offenbar mitgenommen, blieb somit für sie erreichbar. Vielleicht stempelte sie ihn immer viel zu leicht zum Trottel, vielleicht war sie in der Beurteilung seiner Person schon lange nicht mehr gerecht. Immerhin bewältigte er sein Studium mit ausgezeichneten Noten, schrieb sogar Hausarbeiten für andere Studenten. Er war partiell ein Chaot, aber nicht durch und durch. Es war notwendig – für ihre Ehe –, dass sie sich das von Zeit zu Zeit klar machte.
Sie schloss erneut die Augen.
Sie musste eingeschlafen sein, denn sie hatte das Auto nicht kommen hören. Sie schrak erst hoch, als sich jemand über sie beugte. Es mochte sogar sein, dass eine Hand sie berührt hatte, aber das hätte sie nicht beschwören können.
»Ja bitte?«, fragte sie völlig verwirrt, so als habe sie einen Telefonhörer abgenommen und erwarte einen Teilnehmer am anderen Ende der Leitung.
Stattdessen blickte sie in das Gesicht eines fremden Mannes.
In ihren Augen war er bereits älter, Mitte vierzig vielleicht, er wirkte sympathisch und besorgt.
Ja, vor allem besorgt. Dies war womöglich das Attribut, das sie in diesem Moment am ehesten mit ihm in Verbindung gebracht hätte.
»Ach, Sie sind Deutsche!«, sagte er. Seine Sprache war völlig akzentfrei, also war er wohl selber Deutscher, wie Inga vermutete. Jetzt entdeckte sie auch das Auto, das hinter ihm parkte. Münchener Nummer.
»Ich bin eingeschlafen«, sagte sie. »Wieviel Uhr ist es?«
Der Mann schaute auf seine Armbanduhr. »Es ist Viertel nach eins.«
Als Marius losgezogen war, war es zwanzig nach zwölf gewesen. Sie hatte fast eine Stunde lang geschlafen.
Sie richtete sich auf, blickte nach rechts und links über die sonnenglühende, leere Straße.
» Ich warte hier auf meinen Mann. Er versucht, etwas zu trinken zu organisieren.« Während sie dies sagte, merkte sie, wie trocken und aufgesprungen sich ihre Lippen anfühlten. Das Verlangen nach einem Schluck Wasser begann übermächtig zu werden.
»Mein Gott, das ist doch kein Problem. Warten Sie!« Er stand auf, ging zum Auto zurück und erschien mit einer Kühltasche. Er öffnete sie und zog eine von Kälte beschlagene Dose Cola heraus.
»Hier. Ich trinke auf langen Autofahrten wie ein Verrückter Cola, deshalb habe ich leider nichts anderes, aber …«
Sie nahm ihm die Dose aus der Hand, öffnete sie mit zitternden Fingern, setzte sie an und trank. Trank wie eine Verdurstende und spürte, wie ihre Lebensgeister langsam zurückkehrten und neue Kräfte in ihr wuchsen.
»Danke«, sagte sie, als die Dose leer war. »Sie haben mich gerettet.«
»Ich kam die Straße entlang, sah Sie hier liegen und fragte mich, ob wohl alles in Ordnung ist mit Ihnen. Deshalb habe ich angehalten.« Sein Blick glitt an ihren nackten Beinen hinunter und heftete sich erschrocken an ihre Füße. »Lieber Himmel! Ihre Füße sehen ja furchtbar aus!«
»Wir sind ziemlich weit gelaufen. Und ich hatte blöderweise funkelnagelneue Schuhe an.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das mit dem Trampen haben wir uns irgendwie einfacher vorgestellt.«
Der Mann sah sich um. »Ich glaube, ich bin der einzige Autofahrer seit langem. Dieses Dorf liegt nicht unbedingt günstig, um eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Jedenfalls … ich weiß ja nicht, wohin Sie wollen, aber …«
»Ans Mittelmeer.«
»Da sind Sie aber ein bisschen vom Weg abgekommen.«
»Ich weiß. Wir wollen ja auch zur Autobahn zurück, aber bei dieser Hitze müssen wir wohl bis zum Abend warten.«
Er sah sie nachdenklich an; es schien, als wäge er irgendetwas ab und versuche, eine Entscheidung zu treffen. »Ich fahre ans Mittelmeer. Cap Sicié. Côte de Provence.«
»Oh … dann sind Sie aber auch ein bisschen vom Weg abgekommen, oder?«
Er strich sich die Haare aus der Stirn. Sie waren dunkel, kaum angegraut. »Die haben im Radio einen Unfall gemeldet. Mit größerem Stau. Den versuche ich gerade zu umfahren. «
Sie sah ihn an. Sie wusste, dass sie Vertrauen erweckend wirkte. Aber sie verstand Menschen nur zu gut, die prinzipiell keine Anhalter mitnahmen. Sie selber gehörte dazu. Eine Freundin von ihr hatte bei eisiger
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