Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
aushalten.
Felix öffnete bereits das Gartentor, das dabei fast aus seinen verrosteten Angeln fiel, und betrat das Grundstück.
»Nicht«, sagte Rebecca, »du weißt doch gar nicht, ob die Leute daheim sind.«
»Ich glaube, hier wohnt überhaupt niemand mehr«, meinte Felix, »das sieht alles völlig verlassen aus. Schau mal, wie hoch das Gras steht! Hier hat seit Ewigkeiten niemand mehr gemäht oder Büsche und Bäume zurückgeschnitten. «
Zweige stießen ihnen ins Gesicht oder verfingen sich in ihren Haaren, als sie den nur noch schwach als Weg erkennbaren Pfad zum Haus entlangstolperten. Rebecca musste zugeben, dass es tatsächlich unwahrscheinlich war, dass hier noch jemand wohnte. Das Haus sah so ungepflegt aus wie der Garten, von den Wänden bröckelte der Putz, die Fenster im ersten Stock hatten teilweise keine Scheiben mehr. Die Haustür hing so schief in ihrem Rahmen wie das Gartentor.
»Da wäre eine Menge zu investieren«, murmelte Felix, und Rebecca sah ihn entsetzt an. »Du denkst doch nicht ernsthaft, dass wir …?«
»Nein, nein«, sagte er, und dann waren sie um das Haus herumgegangen, und alles hatte sich verändert. Das Licht, der Himmel, der ganze Tag. Weit tat sich der Garten vor ihnen auf, eine große, scheinbar unbegrenzte Wiese, die am Ende in Felsen überging, und hinter den Felsen schimmerte das Meer, blau und endlos, und es spiegelte die Strahlen der Sonne wider, die von einem wolkenlosen Himmel schien und den Eindruck der Düsternis, der zuvor in so beklemmender Weise vorgeherrscht hatte, mit einem Schlag verscheuchte.
Sie standen beide überwältigt vor diesem Anblick und vor den Empfindungen, die er in ihnen auslöste.
»Das ist …«, sagte Felix hingerissen, und Rebecca vollendete den Satz: »Unglaublich. Es ist unglaublich schön.«
Sie liefen über die ganze Wiese bis nach vorn zu den Felsen. Wild und schroff stürzte der Steilhang hier ins Meer. Unten toste die Brandung und schleuderte weiße Gischt hoch hinauf auf die Steine. Hell schimmerte der Sand einer kleinen Bucht zwischen Wasser und Felsen.
»Da könnte man baden«, sagte Felix.
»Man kommt nicht da runter«, wandte Rebecca ein.
»Aber sicher doch. Man kann einen Pfad anlegen.«
»Die Brandung ist hier sowieso viel zu wild.«
»Nicht immer. Nicht jeden Tag.«
Sie blickten zum Haus zurück. Es hatte eine kleine, überdachte Veranda zu dieser Seite hin. Ein klappriger Liegestuhl stand dort, und eine etwas verdorrte Bougainvillea rankte sich entlang eines Pfostens nach oben und überwucherte das Vordach.
»Dort zu sitzen und über das Meer zu blicken …«
»Abends bei Sonnenuntergang …«
»Oder morgens im ersten Licht des Tages …«
»Der Brandung lauschen …«
»In den Himmel schauen …«
»Wie die Möwen schreien …«
Sie hatten einander an den Händen genommen und waren langsam durch den Garten zum Haus gegangen. Zu ihrem Haus.
Sie kauften es zwei Wochen später.
Im Garten hatte Rebecca an diesem Morgen eine kurze Runde gedreht und dabei eine Zigarette geraucht, dann war sie in die Küche gegangen und hatte sich einen Tee gemacht. Sie
trank ihn, sehr heiß und mit etwas Honig gesüßt, aus einem Keramikbecher, auf den zwei dicke schwarze Katzen gemalt waren, deren Schwänze sich zu einer Herzform ineinander verschlangen. Der Untergrund des Bechers war gelb. Rebecca hatte den gleichen Becher in Rot, der gelbe hatte Felix gehört, und sie benutzte nur noch diesen. Freunde hatten ihnen die Becher zum zehnten Hochzeitstag geschenkt. Sie hatten sie in das Haus am Kap mitgenommen, weil sie hier besonders gut hinzupassen schienen.
Felix hatte im Urlaub immer gern und ausgiebig gefrühstückt, und so hatte Rebecca um sieben Uhr den Tisch im Wohnzimmer gedeckt, mit aufgebackenem Baguette aus der Tiefkühltruhe, Butter, verschiedenen Marmeladensorten. Sie stellte jeweils einen Teller an seinen und an ihren Platz, setzte sich, starrte das Brot, die Butter, die Marmelade an und wusste, dass sie schon wieder nichts würde essen können. Morgens war es am schlimmsten. Der Tag dehnte sich in seiner ganzen Länge vor ihr aus, versprach eine endlose Aneinanderreihung leerer, einsamer Stunden. Der Abend war so fern. Und damit der Moment, da sie ihr Schlafmittel nehmen, ins Bett gehen und für einige Stunden Vergessen finden konnte.
Und in diesem Moment, diesem alltäglich wiederkehrenden Moment trostlosester Einsamkeit und einer Übelkeit erregenden Angst vor dem Tag, hatte sie gedacht: Ich will es nicht
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