Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Abschluss seines Studiums arbeitete, und war selten zu Hause. Karen hatte ihren Beruf als Zahnarzthelferin aufgegeben, als das zweite Kind kam, und es war ihnen beiden als vernünftige Lösung erschienen.
»Ich verdiene genug Geld«, hatte Wolf gesagt, »und du kannst dich dann ganz um die Kinder kümmern und musst dich nicht dauernd so abhetzen.«
Manchmal argwöhnte Karen, dass Wolf nicht die geringste Ahnung hatte, in welchem Ausmaß allein das Betreuen zweier Kinder zum Abhetzen zwang, zumal es natürlich darüber hinaus auch darum ging, das Haus in Ordnung zu halten, den Garten zu pflegen, Kenzo auszuführen, sämtliche Einkäufe zu erledigen, die Wäsche zu waschen und Wolfs Hemden zu bügeln. Und es war – und damit, so meinte sie manchmal in einer Art untergründiger Ahnung zu erkennen, näherte sie sich vielleicht dem Kern ihrer Frustration und
Melancholie – ein Leben im Stress, für den ihr kein Mensch auch nur einen Funken Anerkennung zollte. Andererseits ging das kaum einer Hausfrau anders, wenn Karen den Leserbriefen in Frauenzeitschriften Glauben schenken durfte. Warum also krallte sie sich an diesem abgegriffenen Klischee fest, stimmte in das kollektive Jammern ihrer Geschlechtsgenossinnen ein, anstatt das Gute in ihrem Leben zu sehen? Die gesunden Kinder, den liebenswerten Hund, die glatte Karriere ihres Mannes, das schöne Haus?
Ja, denn das schöne, neue Haus hatten sie seit drei Monaten, und bei ihrem Rätselraten um die Ursache ihrer wachsenden Schwermut kam ihr dann und wann der Gedanke, dass sie den Umzug vielleicht nicht verkraftete, die neue Umgebung, die neuen Nachbarn. Eindeutig waren ihre Symptome deutlicher geworden. Die Schlaflosigkeit war quälender geworden, aber auch paradoxerweise ihre Müdigkeit. Die Stunden des Tages dehnten sich in unendliche Leere, und oft war sie nicht in der Lage, die dahintickenden Minuten mit Sinnvollem zu füllen, obwohl es genug zu tun gegeben hätte. Manchmal saß sie mit dem ellenlangen Einkaufszettel in der einen, dem Geldbeutel in der anderen Hand auf dem Sofa, starrte in den blühenden Garten und fand nicht die Kraft, aufzustehen und zum Supermarkt zu gehen.
War sie einsam? War sie inmitten der vierköpfigen Familie so einsam, dass ihr der Lebensmut langsam, aber unaufhörlich aus der Seele rann und irgendwo versickerte, wo sie ihn nie mehr finden würde?
Eine Woche nach dem Einzug hatte sie sich aufgerafft und die Nachbarn besucht, in der Hoffnung, hier vielleicht ein paar nette Kontakte herstellen zu können. Die Besuche hatten sie deprimiert: Die alte Dame auf der einen Seite war ziemlich senil und verbittert, sie hatte Karen unwirsch und unfreundlich behandelt, so als sei diese persönlich an irgendeiner
Misere in ihrem Leben schuld. Auf der anderen Seite lebte ein ebenfalls schon recht altes Ehepaar. Karen mochte die beiden nicht, zumindest konnte sie sich nicht vorstellen, in ein freundschaftliches Verhältnis zu ihnen zu treten. Er hörte sich gerne reden und prahlte unablässig mit seinen beruflichen Erfolgen aus der Zeit, da er als höchst gefragter Rechtsanwalt – wollte man ihm Glauben schenken – sensationelle Erfolge hatte feiern können. Seine Frau sprach fast gar nichts, fixierte jedoch Karen ständig aus den Augenwinkeln, und Karen hatte das ungute Gefühl, sie werde gnadenlos über sie herziehen, kaum dass sie das Haus wieder verlassen hätte. Sie saß, ziemlich erschlagen und wie meist auch recht depressiv, auf dem geschmacklosen Brokatsofa, nippte an einem Cognak und versuchte, an den richtigen Stellen bewundernd zu lächeln oder ein staunendes » Oh! « hervorzubringen.
Und wünschte sich inbrünstig in die Sicherheit der eigenen vier Wände zurück.
»Ich finde sie unsympathisch«, hatte sie abends ihrem Mann erklärt, »er ist total von sich überzeugt, und sie kriegt den Mund nicht auf und steckt voller Aggressionen. Ich habe mich richtig unwohl gefühlt.«
Wolf lachte, und wie so oft fand Karen, dass seinem Lachen etwas Überhebliches anhaftete. »Du bist aber wirklich schnell in deinen Analysen, Karen. Ich dachte, du warst eine knappe halbe Stunde dort drüben? Und kannst diese wildfremden Menschen bereits so genau einordnen? Hut ab, kann ich da nur sagen!«
Natürlich verspottete er sie, aber warum verletzte sie dies so sehr? Das war doch früher nicht so gewesen. Was hatte sie so empfindlich werden lassen? Oder war sein Spott schärfer geworden? Oder kam beides zusammen und bedingte einander? Wolf war beißender
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