Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Treppenhaus. Gehorsame Ehefrau bis zuletzt. Polizei rufen, hatte er gesagt. Das Telefon befand sich im Wohnzimmer. Fred besaß zwar zudem ein Handy, aber wo das herumlag, das wusste sie erst recht nicht.
Erst auf der Treppe ging ihr auf, dass sie einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte.
Aber da war es bereits zu spät.
Dienstag, 20. Juli
Um halb fünf am Morgen gab es Karen auf, noch etwas Schlaf finden zu wollen, und sie entschied, dass es besser sei, aufzustehen und etwas Sinnvolles zu tun, als sich noch länger im Bett herumzuwälzen und schließlich vollends gerädert zu sein.
Aber was ist schon sinnvoll, dachte sie, was, in meinem Leben , ist schon sinnvoll?
Wolf, ihr Mann schlief noch, er hatte nichts von der Schlaflosigkeit seiner Frau mitbekommen. Das war auch gut so, denn er hätte entweder mit Spott oder mit Vorhaltungen darauf reagiert, und beides hätte Karen – wieder einmal – in Tränen ausbrechen lassen. Sicherlich hätte er sie darauf hingewiesen, dass sie abends zu früh ins Bett ging, daher zwangsläufig auch am nächsten Morgen zu früh aufwachte und schließlich alle mit dem Lamento über ihr nächtliches Wachliegen verrückt machte.
Vielleicht hatte er Recht. Schließlich klang es logisch, was er sagte. Und es hatte leider immer sehr wenig Sinn, ihn anderen Argumenten und Erklärungen zugänglich machen zu wollen. Für Wolf gab es eine Sicht der Dinge, und das war seine, und damit Schluss. Karen wusste selber, dass sie abends zu früh schlafen ging, aber sie war so erschöpft, so kraftlos, dass ihr einfach die Augen zufielen, ganz gleich, was sie tat. Sie kroch in ihr Bett wie eine Kranke, deren Körper am Ende ist, und fiel geradezu übergangslos in einen narkoseähnlichen Schlaf. Aus dem sie gegen halb vier am Morgen
ebenso übergangslos aufschreckte und fortan hellwach war, gepeinigt von angstvollen Gedanken, ihre Zukunft und die ihrer Familie betreffend.
Sie schlüpfte in Jeans und T – Shirt, zog ihre Turnschuhe an und schlich aus dem Schlafzimmer. In einem Buch hatte sie gelesen, dass Bewegung an der frischen Luft bei Depressionen hilfreich sein sollte. Sie wusste nicht genau, ob sie depressiv war, aber manche der in dem Buch beschriebenen Symptome fand sie durchaus bei sich wieder.
Aus den Kinderzimmern klang kein Laut. Offensichtlich war es ihr geglückt, niemanden von der Familie aufzuwecken.
Als sie die Treppe hinunterkam, stand Kenzo, der Boxer, schon unten in der Diele und wedelte heftig mit seinem kurzen Schwanz. Obwohl er im Wohnzimmer geschlafen hatte – zur Zeit war das Sofa sein Lieblingsbett –, war es ihm natürlich nicht entgangen, dass Frauchen aufgestanden war und sich angezogen hatte. Auch interpretierte er ihre Turnschuhe sofort richtig: Das sah ganz nach einem frühmorgendlichen Spaziergang aus. Begeistert vollführte er ein paar Luftsprünge, lief zur Haustür und schaute Karen erwartungsvoll an.
»Ich komme ja schon«, wisperte sie ihm zu und griff nach Halsband und Leine, »aber sei schön leise!«
Der Hochsommermorgen war schon recht hell, die Luft noch kühl, aber auf eine angenehme, erfrischende Weise. Der Tag würde sonnig und heiß werden. Tau glitzerte auf dem Gras. Karen atmete tief die reine Luft.
Wie friedlich es ist, dachte sie. Wie still. Alles schläft noch. Es ist, als seien Kenzo und ich die einzigen Lebewesen auf der Welt.
Sie beschloss, zum Wald hinüberzulaufen und dann dort eine große Runde zu drehen. Noch durch ein paar Straßen der Siedlung hindurch, schon wäre sie da. Die Nähe zum
Wald war – in Hinblick auf den Hund – einer der Gründe gewesen, weshalb sie und Wolf sich für das Haus in der Münchener Stadtrandsiedlung entschieden hatten.
Seitdem sie in das neue Haus eingezogen waren, ging es Karen schlechter. Sie hatte schon vorher unter allen möglichen Problemen und Sorgen gelitten, wobei sie nie genau hatte definieren können, welcher Art ihre Schwierigkeiten waren. Eine Freundin hatte gemeint, sie sei in ihrer Ehe nicht glücklich, aber das hatte Karen abgestritten. Sehr energisch abgestritten. Sie und Wolf kannten einander seit fünfzehn Jahren, waren seit elf Jahren verheiratet und hatten zwei gesunde, hübsche Kinder. Bis auf die normalen Querelen, die sich zwangsläufig zwischen zwei erwachsenen Menschen, die unter einem Dach leben, ergeben, war zwischen ihnen weitgehend alles in Ordnung. Vielleicht hatten sie ein bisschen wenig voneinander, denn Wolf machte Karriere bei der Bank, für die er seit
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