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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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ist. Dagegen ist man schutzlos. Jawohl, für mich ist es ein Unglück.» Er wollte fortfahren, aber der Vorsitzende hat ihm gesagt, es wäre gut, und man dankte ihm. Da war Céleste ein bisschen verdutzt. Aber er hat erklärt, er wollte noch etwas sagen. Man hat ihn aufgefordert, sich kurz zu fassen. Er hat noch einmal wiederholt, dass es ein Unglück wäre. Und der Vorsitzende hat zu ihm gesagt: «Ja, gut. Aber wir sind da, um über solche Unglücksfälle zu urteilen. Wir danken Ihnen.» Da hat sich Céleste, als wäre er mit seinem Latein und mit seinem guten Willen am Ende, zu mir umgedreht. Mir schien, dass seine Augen schimmerten und seine Lippen zitterten. Er sah aus, als würde er mich fragen, was er noch tun könnte. Ich habe nichts gesagt, habe keine Geste gemacht, aber zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Lust, einen Mann zu küssen. Der Vorsitzende hat ihm noch einmal befohlen, den Zeugenstand zu verlassen. Céleste ist in den Zuhörerraum gegangen und hat sich gesetzt. Während der ganzen übrigen Sitzung hat er, etwas vorgebeugt, die Ellbogen auf den Knien, den Panamahut in den Händen, so dagesessen und hat sich alles angehört, was gesagt wurde. Marie ist hereingekommen. Sie hatte einen Hut auf und war wieder schön. Aber mir gefiel sie mit offenem Haar besser. Von meinem Platz aus ahnte ich das leichte Gewicht ihres Busens, und mir fiel ihre immer etwas geschwollene Unterlippe wieder auf. Sie wirkte sehr nervös. Sofort hat man sie gefragt, seit wann sie mich kennen würde. Sie hat die Zeit angegeben, als sie bei uns arbeitete. Der Vorsitzende wollte wissen, welche Beziehung sie zu mir hätte. Sie hat gesagt, sie wäre meine Freundin. Auf eine andere Frage hat sie geantwortet, es stimmte, dass sie die Absicht hätte, mich zu heiraten. Der Staatsanwalt, der in einer Akte blätterte, hat sie plötzlich gefragt, seit wann wir ein Verhältnis hätten. Sie hat den Tag angegeben. Der Staatsanwalt hat mit gleichgültiger Miene bemerkt, es schiene ihm der Tag nach Mamas Tod zu sein. Dann hat er etwas ironisch gesagt, er wollte eine delikate Situation nicht breittreten, er verstände Maries Skrupel, aber (und hier wurde sein Ton härter) seine Pflicht geböte ihm, sich über die Konventionen hinwegzusetzen. Er hat Marie also aufgefordert, den Tag kurz zu schildern, an dem ich sie näher kennengelernt hatte. Marie wollte nicht reden, aber angesichts der Beharrlichkeit des Staatsanwalts hat sie von unserem Bad, unserem Kinobesuch und unserer Rückkehr zu mir erzählt. Der Ankläger hat gesagt, er hätte im Anschluss an Maries Aussagen während der Ermittlung die Kinoprogramme jenes Tages durchgesehen. Er hat hinzugefügt, Marie selbst würde sagen, welcher Film damals lief. Mit fast tonloser Stimme hat sie tatsächlich angegeben, dass es ein Film mit Fernandel war. Es herrschte vollkommene Stille im Saal, als sie geendet hatte. Der Staatsanwalt hat sich dann sehr ernst erhoben, hat mit dem Zeigefinger auf mich gedeutet und mit einer Stimme, die ich für aufrichtig erschüttert hielt, langsam und deutlich gesagt: «Meine Herren Geschworenen, einen Tag nach dem Tod seiner Mutter ging dieser Mann zum Baden, begann ein ungehöriges Verhältnis und ging ins Kino, um über einen komischen Film zu lachen. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen.» Er hat sich, immer noch von Stille umgeben, gesetzt. Aber auf einmal hat Marie angefangen, laut zu schluchzen, hat gesagt, dass es nicht so wäre, dass es um etwas anderes ginge, dass man sie zwänge, das Gegenteil von dem zu sagen, was sie dächte, dass sie mich gut kennen würde und dass ich nichts Böses getan hätte. Aber der Gerichtsdiener hat sie auf einen Wink des Vorsitzenden hin weggeführt, und die Sitzung ging weiter.
    Dann hat man so gerade eben Masson angehört, der erklärte, ich wäre ein anständiger Mensch, «und er würde sogar sagen, ein guter Kerl». Wieder so gerade eben hat man Salamano angehört, als er daran erinnerte, dass ich gut zu seinem Hund gewesen wäre, und als er eine Frage zu meiner Mutter und zu mir beantwortete, nämlich, dass ich Mama nichts mehr zu sagen gehabt hätte und sie deshalb ins Heim gebracht hätte. «Man muss das verstehen», sagte Salamano, «man muss das verstehen.» Aber niemand schien zu verstehen. Man hat ihn weggeführt.
    Dann kam die Reihe an Raymond, der der letzte Zeuge war. Raymond gab mir ein kleines Zeichen und hat sofort gesagt, ich wäre unschuldig. Aber der Vorsitzende hat erklärt, man wollte von ihm keine

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