Der fremde Tibeter
nur noch die Angst real gewesen.
Am Hals hatte der khampa tiefe Narben, die von einer Klinge stammten. Als er das Wort ergriff, verzog er kalt und verächtlich den Mund. »Oberst Tan, haben die gesagt«, brummte er und schaute sich beifallheischend um. »Niemand hat mir erzählt, daß dies hier Tans Bezirk ist. Der größte Hurensohn in dieser Armee voller Hurensöhne.«
Einen Moment lang schien es, als hätte niemand ihm zugehört, dann beugte sich plötzlich eine der Wachen vor und hieb dem Mann den Schlagstock gegen die Schienbeine. Das Gesicht des khampa verwandelte sich kurz in eine schmerzverzerrte Grimasse und ging dann in ein boshaftes Lachen über, während der Mann eine kleine Drehbewegung in Shans Richtung machte, als hielte er ein Messer in der Hand. Mit einstudiertem Desinteresse schloß Shan die Augen.
Die Klappe wurde am Heck des Lasters festgezurrt, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Auf der dunklen Ladefläche erhob sich ein leises Murmeln. Es war kaum zu hören, so wie das Rauschen eines weit entfernten Flusses. Während der dreißigminütigen Fahrt zum Lager saßen die Wachen in den Führerhäusern der Fahrzeuge, und die Häftlinge waren unter sich. Die Erschöpfung des Trupps war beinahe zu greifen. Sie glich einem müden Grauschleier, der sich wie eine dämpfende Watteschicht über die Rückfahrt legte. Aber sie entband die Männer nicht von ihren Gelübden.
Nach drei Jahren war Shan inzwischen in der Lage, die malas, die Gebetsketten der Männer, am Geräusch auseinanderzuhalten. Der Mann links von ihm ließ eine Schnur mit Knöpfen durch die Finger gleiten. Die unerlaubte mala zu seiner Rechten hatte man aus Fingernägeln gefertigt. Das Prinzip war weit verbreitet: Man ließ seine Nägel wachsen, schnitt sie ab und sammelte sie auf einem Faden, den man aus einer Decke gezogen hatte, bis die erforderliche Anzahl von hundertacht Exemplaren erreicht war. Manche Rosenkränze bestanden nur aus Knoten in einem solchen Faden und bewegten sich geräuschlos durch die schwieligen Hände. Andere Häftlinge hatten Melonenkerne benutzt und ihre malas dadurch zu begehrten Objekten gemacht, die sorgsam gehütet werden mußten, weil andere Gefangene, vor allem die Neuankömmlinge, mehr auf die Rituale des Überlebens als auf die Rituale Buddhas bedacht waren. Sie würden solche Gebetsketten einfach aufessen.
Mit jedem Kern oder Fingernagel, Knoten oder Knopf sagte ein Priester das uralte Mantra auf: Om mani padme hum. O Juwel in der Lotusblüte, die Anrufung des mitfühlenden Buddhas. Kein Geistlicher würde sich auf seine Schlafstelle niederlassen, bevor er nicht sein tägliches Soll von mindestens einhundert Umläufen hinter sich gebracht hatte.
Die Litanei wirkte wie ein Balsam auf Shans müde Seele. Die Priester und ihre Mantras hatten sein Leben verändert. Sie hatten es ihm ermöglicht, den Schmerz der Vergangenheit hinter sich zu lassen und nicht mehr zurückzublicken. Zumindest meistens. Das müsse genau untersucht werden, hatte er zu Chang gesagt. Die Worte hatten ihn selbst weitaus mehr überrascht als den Leutnant. Die Macht der Gewohnheit.
Als die Müdigkeit ihn zu übermannen drohte, stieg plötzlich ein Bild vor ihm auf. Ein kopfloser Körper saß aufrecht da und spielte mit einem goldenen Feuerzeug herum. Die Gestalt bemerkte ihn und streckte ihm zögernd das Feuerzeug entgegen. Auf einmal wurde ihm die Luft knapp. Keuchend riß er die Augen auf.
Nicht der khampa beobachtete ihn, sondern ein älterer Mann, der einzige Sträfling mit einem echten Rosenkranz, einer antiken mala aus Jadeperlen, die sie vor einigen Monaten zufällig gefunden hatten. Der Mann, der sie benutzte, saß schräg gegenüber von Shan neben Trinle auf der Bank hinter dem Führerhaus. Sein Gesicht war glatt wie ein runder Pflasterstein, abgesehen von der gezackten Narbe an der linken Schläfe, wo ihn vor dreißig Jahren ein Rotgardist mit einer Hacke angegriffen hatte. Choje Rinpoche war der kenpo, der Abt vom Kloster Nambe gewesen, einem der vielen tausend Klöster, das die Chinesen zerstört hatten. Jetzt war er kenpo der 404. Baubrigade des Volkes.
Während Choje genau wie die anderen seine Perlen abzählte, ohne das Schlingern des Wagens zu beachten, ließ Trinle ein kleines Objekt in seinen Schoß fallen, das in ein Stück Stoff gewickelt war. Choje senkte die Gebetskette und wickelte den Gegenstand langsam aus. Es handelte sich um einen Stein, auf dem ein rostfarbener Fleck zu sehen war. Der alte Lama nahm
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