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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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weiter und sang dabei ein altes Hirtenlied, bis Leutnant Knüppel irgendwann am Rand der Klippe stand. Der khampa zögerte keine Sekunde und griff an. Er stürzte sich auf Knüppel, schlang Arme und Beine um den Offizier und schaffte es dank des zusätzlichen Gewichts, sie beide über die Kante in die Tiefe zu befördern.
    Auf einmal ertönte die Nachtglocke. Die einzelne nackte Glühlampe, die den Raum erhellte, wurde ausgeschaltet. Ab jetzt waren keine Gespräche mehr erlaubt. Ganz allmählich, wie ein Grillenchor, der die Nacht für sich beansprucht, erfüllte das gleichmäßige Klicken der Gebetsketten die Hütte.
    Einer der jungen Mönche schlich zur Tür, um dort Wache zu halten. Aus einem Versteck unter einem losen Brett holte Trinle zwei Kerzen hervor, zündete sie an und stellte sie zu beiden Seiten des Rechtecks aus Kreide auf. Eine dritte wurde vor Choje hingestellt, doch die Flamme war so schwach, daß sie nicht einmal das Gesicht des kenpo erhellte. Seine Hände erschienen im Licht und begannen die abendliche Unterweisung. Es war ein Gefängnisritual, das ohne Worte und ohne Musik stattfand, genau wie viele andere Prozeduren, die in den vergangenen vier Jahrzehnten von den buddhistischen Mönchen entwickelt worden waren, seit man begonnen hatte, die Priester in chinesische Gefängnisse zu stecken.
    Zuerst kamen die Opfer vor dem unsichtbaren Altar. Choje legte die Handflächen aneinander und streckte sie vor. Seine Zeigefinger rollten sich unter den Daumen zusammen. Das war das Zeichen für argham, Wasser für das Gesicht. Viele der mudras, der Handsymbole zur Konzentration der inneren Kraft, kannte Shan noch immer nicht, aber Trinle hatte ihm die Opferzeichen beigebracht. Die beiden kleinen Finger von Chojes körperlosen Händen zogen sich zwischen die Handflächen zurück, und die Hände zeigten nach unten. Padyam. Wasser für die Füße. Langsam, anmutig und mit Geschick vollführte Choje die Gesten, um Weihrauch, Wohlgerüche und Nahrung zu opfern. Schließlich legte er die Fäuste aneinander und streckte die Daumen senkrecht nach oben wie Dochte, die aus einer Schale Butter ragten. Das war aloke. Die Lampen.
    Von draußen unterbrach ein langgezogenes schmerzerfülltes Stöhnen die Stille. Ein Mönch in der Nachbarhütte starb an irgendeiner inneren Krankheit.
    Chojes Hände deuteten auf den unsichtbaren Kreis der Gläubigen und fragten sie, was sie zur Lobpreisung der inneren Gottheit mitgebracht hatten. Ein Paar daumenloser Hände erschien im Licht. Ihre Zeigefinger berührten sich an den Spitzen, die anderen Finger waren verschränkt. Leises beifälliges Murmeln erfüllte den Raum. Das war der goldene Fisch, ein Opfer, um Glück zu erbitten. Weitere Hände tauchten auf, nachdem jeweils genug Zeit verstrichen war, um stumm das Widmungsgebet zu rezitieren, das mit der vorigen Opfergabe einherging. Die Muschelschale, das Schatzkästchen, der verschlungene Knoten, die Lotusblume. Jetzt war Shan an der Reihe. Er zögerte, dann streckte er den linken Zeigefinger nach oben und bedeckte ihn mit der flachen rechten Hand. Der weiße Schirm, ein weiteres Gebet, das um Glück bat.
    Es folgte ein leises und ungewöhnliches Geräusch, das wie das Rascheln von Federn klang. Es war inzwischen fester Bestandteil von Shans Nächten geworden und stammte von einem Dutzend Männern, die mit ihren Lippen stumme Mantras formten. Chojes Hände kehrten für die Predigt in den Lichtkreis zurück. Er begann mit einer Geste, die Shan noch nicht oft gesehen hatte, und hob die rechte Hand, so daß Handfläche und Finger nach oben wiesen. Das mudra zur Vertreibung der Angst. Ein unruhiges Schweigen legte sich über den Raum. Einer der jungen Mönche schluckte vernehmlich, als sei ihm plötzlich klargeworden, daß gerade etwas äußerst Wichtiges passierte. Dann veränderten die Hände ihre Haltung und verschränkten sich, während die Mittelfinger weiter nach oben wiesen. Das mudra namens Diamant des Verstands, das Reinigung und Klarheit der Entschlußkraft erflehte. Dies war die Predigt. Die Hände veränderten sich nicht. Sie verharrten regungslos, als seien sie aus fahlem Granit gemeißelt, während die Gläubigen sie nachdenklich betrachteten. Die Botschaft hätte nicht deutlicher sein können, wenn Choje sie lauthals von einem Berggipfel verkündet hätte. Der Schmerz war irrelevant, sagten die Hände. Die Felsen, die Blasen, die gebrochenen Knochen waren belanglos. Denk an dem Ziel. Ehre deinen inneren Gott.
    An Klarheit

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