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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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dich!«
    Dann legte er eine Hand an die Stirn, um seine Augen vor dem Licht zu schützen, und beobachtete den Vogel. »Er kommt«, verkündete er. »Der Rabe sagt, er kommt.«
    Je Rinpoche kam nicht. Er wartete. Shan fand ihn nach etwa hundert Metern auf einem Felsvorsprung. Er wirkte überaus gebrechlich. Sein Kopf war fast völlig haarlos und seine Haut rauh, als wäre sie mit Sand überzogen. Doch seine glänzenden, rastlosen Augen funkelten vor Lebendigkeit. Man bekam beinahe den Eindruck, jemand hätte zwei Edelsteine in einen korrodierten Felsen eingesetzt.
    Shan legte die Handflächen aneinander und neigte grüßend seinen Kopf. »Rinpoche. Dürfte ich... «
    »Es gibt so vieles zu bedenken«, unterbrach der Greis ihn. Seine Stimme war überraschend kräftig. »Diesen Berg. Die Hunde. Die Art und Weise, wie der Nebel die Hänge hinabgleitet, und zwar jeden Morgen anders.« Er drehte sich zu Shan. Sein Gewand bewegte sich dabei kaum. »Manchmal fühle ich mich auch so. Wie Nebel, der den Berg hinabgleitet.« Er sah wieder ins Tal und wickelte sich fester in sein Gewand, als sei ihm kalt. »Jigme bringt zuweilen eine Melone mit. Wir essen sie, und Jigme schaut zu.«
    Shan seufzte und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Er würde nie die Gelegenheit erhalten, mit Sungpo zu sprechen. Je, sein Lama, war als möglicher Vermittler Shans einzige Hoffnung gewesen. »Wenn wir auf den Gipfel des Berges steigen, weißt du, was wir dann tun?« fragte der Lama. »Das gleiche, was ich schon als Novize gemacht habe. Wir falten kleine Papierpferde und lassen sie vom Wind davontragen.« Er hielt inne, als würde Shan eine zusätzliche Erklärung benötigen. »Wenn sie den Erdboden berühren, werden sie zu richtigen Pferden, um Reisenden durch das Gebirge zu helfen.«
    Neben Je bewegte sich etwas. Nur eine Armeslänge von ihm entfernt war der Rabe gelandet.
    »Sie beten, meine Freunde und Lehrer«, fuhr Je fort. »Sie alle, und die ersten Bomben fallen. Es ist Zeit genug, um zu fliehen, aber sie wollen nicht. Ich muß die jungen Mönche in die Hügel mitnehmen. Diejenigen, die zurückbleiben, sterben. Sie beten einfach nur ihre Rosenkränze und sterben in den Explosionen. Als ich mit den Jungen aufbreche, trifft mich etwas im Gesicht. Es ist eine Hand, die noch immer die Gebetskette umklammert hält.«
    Es mußte 1959 oder spätestens 1960 gewesen sein, überlegte Shan, daß die Volksbefreiungsarmee die Klöster aus der Luft bombardiert hatte.
    »War es richtig?« fragte Je. »Diese Versuchung besteht immer. Danach zu fragen, ob es richtig war. Natürlich ist es die falsche Frage.«
    Plötzlich wurde Shan klar, daß der alte Mann genau wußte, aus welchem Grund er hergekommen war.
    »Rinpoche«, sagte er langsam, »ich würde von Sungpo nicht verlangen, daß er sein Gelübde bricht. Ich bitte ihn lediglich darum, daß er mir bei der Suche nach der Wahrheit behilflich ist. Es gibt dort irgendwo einen Mörder. Er wird wieder töten.«
    »Der einzige, der den Mörder finden kann, ist der Ermordete«, sagte Je. »Laß den Geist Rache nehmen. Wegen Sungpo mache ich mir keine Sorgen. Aber wegen Jigme. Jigme ist verloren.«
    Shan erkannte, daß er dem alten Mann die Leitung des Gesprächs überlassen mußte. Er kämpfte gegen die Versuchung an, Jes Gewand zu packen, damit der Greis nicht gen Himmel auffahren konnte. »Jigme gehört nicht zu den Schülern des gompa.«
    »Nein. Er hat das Studium aufgegeben, um mit Sungpo zu gehen, und gehört nirgendwohin. Er ist eine gompa-Waise, und dadurch ist er wie ein kleiner Vogel, der sein ganzes Leben im Sturm verbringen muß.«
    Schaudernd begriff Shan die Wahrheit. Während der Besetzung Tibets und dann noch einmal während der Kulturrevolution hatte man die Mönche und Nonnen gezwungen, ihr Zölibatsgelübde zu verletzen, manchmal miteinander, manchmal mit Soldaten. In einigen Regionen wurden die daraus entstandenen Kinder in besonderen Schulen zusammengefaßt. Andernorts bildeten sie Banden. Unter den Gefangenen der 404ten befanden sich mehrere Mischlingswaisen, die ihren Priestern aus den gompas ins Gefängnis gefolgt waren.
    »Dann helfen Sie mir um Jigmes willen, Sungpo zu befreien.«
    Der alte Mann hatte die Augen geschlossen. »Nachdem das gompa zerstört war«, murmelte er, »konnte ich den aufgehenden Mond viel besser sehen.«
    Der Wagen hatte bereits wieder den langen Aufstieg zum Paß begonnen, als Shan nach dem Namen des gompa fragte, das am Eingang des Tals lag und an

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