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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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und schaute Shan an, als sähe er ihn zum erstenmal. »Aber wer sind Sie denn?«
    »Ein Ermittlungsteam. Wir gehören zu Oberst Tans Dienststelle. Ich überprüfe die Angaben im Fall Dilgo Gongsha. Er war Angehöriger dieses Klosters, nicht wahr?«
    Der Lama musterte ihn gründlich und blickte dann zu Feng und Yeshe, die sich im Schatten der Mauern herumdrückten. Als die beiden an einer kleinen Gruppe Mönche vorbeikamen, stieß einer der Männer einen überraschten Laut aus, wie zur Begrüßung. Ein anderer rief etwas. Shan konnte den Tonfall im ersten Moment nicht richtig deuten. Wut. Yeshe wich hinter Feng zurück.
    »Als wir Dilgo das letzte Mal gesehen haben«, sagte eine sanfte Stimme hinter Shan, »vollzog er gerade den Übergang in jene besondere Hölle, die den gewaltsam geraubten Seelen vorbehalten ist.« Shans Gastgeber stand auf und legte grüßend die Handflächen aneinander. Es war der alte Mönch, der Unkraut gezupft hatte. Sein Gewand war von der Gartenarbeit beschmutzt und seine Fingernägel schwarz vor Erde. »Wir haben die Bardo-Riten abgehalten. Inzwischen ist er als kleines Kind wiedergeboren. Er wird heranwachsen und seine Mitmenschen erneut mit seiner Anwesenheit beglücken.« Seine Augen funkelten, als bereite der Gedanke an Dilgo ihm Vergnügen.
    »Abt«, sagte der Lama und neigte den Kopf. »Verzeiht mir. Ich dachte, Ihr wärt in Eurer Meditationszelle.«
    Abt? Shan warf dem ersten Lama einen verwirrten Blick zu.
    »Dies ist unser chandzoe«, bemerkte der Abt, dem Shans fragendes Gesicht auffiel. »Willkommen in Khartok.«
    »Chandzoe?« Shan hatte diesen Begriff noch nie gehört.
    »Unser Leiter für weltliche Angelegenheiten«, erklärte der Abt.
    »Weltliche Angelegenheiten?«
    »Der Geschäftsführer«, warf der erste Lama ein, reichte dem Abt eine Tasse Tee und bedeutete ihm mit einer Geste, Platz zu nehmen.
    »Warum möchten Sie über unseren Dilgo sprechen?« Der Abt stellte diese Frage so, wie man es vielleicht von einem Kind erwarten würde, mit großen, unschuldigen Augen.
    »Er wurde für schuldig befunden, einen Mann ermordet zu haben, indem er ihm Kiesel in den Hals stopfte. Der Mann war zufällig der Direktor des Büros für Religiöse Angelegenheiten.«
    Der chandzoe runzelte die Stirn. Der Abt schaute in seine Teetasse.
    »Früher war das die traditionelle Methode, um Angehörige des Königshauses zu töten«, sagte Shan. »Sogar in einer Schlacht durfte man sie nur gefangennehmen und später ersticken.«
    »Verzeihen Sie«, sagte der chandzoe. »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.« Er schien nicht unbedingt verwirrt, sondern vielmehr enttäuscht über Shan zu sein.
    »Nur darauf, daß dies für einen leitenden Regierungsbeamten eine sehr traditionelle Art der Ermordung gewesen ist.«
    »Und wie man im Prozeß festgestellt hat, ist Khartok ein überaus traditionelles gompa«, sagte der chandzoe mit einem Anflug von Ungeduld. »Sie können Dilgo nicht zweimal hinrichten.« Unter den Mönchen im Hof kam Unruhe auf und erregte Shans Aufmerksamkeit. Er folgte ihren Blicken zu Feng und Yeshe, die am Rand des Gartens im Schatten standen.
    »Falls ich jemanden ermorden wollte, würde ich mit Sicherheit darauf achten, daß meine Methode keine Rückschlüsse auf mich oder meine Überzeugungen zuläßt.«
    Der chandzoe stand plötzlich auf. »Yeshe?« rief er. »Yeshe Retang?«
    Im ersten Moment zuckte Yeshe zusammen, aber dann sah er die Begeisterung auf dem Gesicht des chandzoe und kam einen Schritt näher. »Ja, Rinpoche. Ich fühle mich geehrt, daß Sie sich an mich erinnern.«
    Der chandzoe breitete wieder die Arme aus, wie am Anfang, als Shan ihn zum erstenmal auf der Treppe gesehen hatte, und forderte Yeshe mit einer Handbewegung auf, aus dem Schatten zu treten. Yeshe blieb steif stehen und warf Shan einen verunsicherten Blick zu.
    Der chandzoe schaute von Shan zu Yeshe. Er war offensichtlich verwirrt.
    »Meine Haftzeit ist seit kurzem vorbei, Rinpoche. Jetzt habe ich diesen Auftrag erhalten. Vorübergehend.«
    Yeshe starrte Shan flehentlich an, was der chandzoe mit großem Interesse zu verfolgen schien. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit nun auf Shan und wartete, daß dieser das Wort ergreifen würde. Der befehlshabende Chinese.
    »Er hat sich beispielhaft um Besserung bemüht«, hörte Shan sich selbst sagen. »Er zeigt immer wieder eine außergewöhnliche...«, er suchte nach einem Wort, »... Hingabe.«
    Der chandzoe nickte befriedigt.
    »Ich kann vielleicht

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