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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Obwohl die Reise elf Tage dauerte, war er überzeugt, je weniger Menschen sie kennenlernten, umso besser, selbst wenn sie sich deswegen ständig in der Kabine aufhalten mussten.
    Martha ihrerseits hatte sich gleich zu Mr Robinson hingezogen gefühlt, umgab ihn doch jene Aura ruhiger Ehrbarkeit, die sie an Männern so mochte. Sie hatte gehört, Atlantiküberquerungen seien berühmt für die Zahl der Don Juans an Bord, aber sie spürte, dass dieser Mann nicht dazugehörte. Sein gesenkter Blick und die leicht verzagte Miene standen im Gegensatz zur erregten Aufgekratztheit der anderen Passagiere.
    »Bleiben Sie in Kanada, oder reisen Sie von dort aus weiter?«
    »Höchstwahrscheinlich reisen wir weiter«, sagte Mr Robinson, auch wenn das nicht der Fall war.
    »Wohin?«
    Er leckte sich die Lippen, stellte sich die Karte Nordamerikas vor und fragte sich, welches Ziel er nennen konnte, das einen Sinn ergab. Er war versucht, New York zu sagen, aber das würde zu der Frage führen, warum sie nicht direkt dorthin fuhren. Und nördlich von Kanada gab es keine Reiseziele mehr. Er schloss die Augen und spürte eine dumpfe Panik in der Brust aufwallen und die Kehle hinaufsteigen, wo alle Worte davonflimmerten und verpufften.
    Zum Glück rettete Edmund die Situation, indem er das Thema wechselte. »Auf welchem Deck haben Sie Ihre Kabine?«, fragte er, und Miss Hayes zögerte nur einen kurzen Moment.
    »Auf Deck B«, sagte sie und sah den Jungen an. »Alles in allem ein ganz netter Raum.«
    »Wir sind auf Deck A«, sagte Edmund und fügte mit gefurchter Stirn noch hinzu: »Mit Etagenbetten.«
    »Mr Robinson! Sie sind doch Mr Robinson, nicht wahr?« Eine laute Stimme von hinten zwang die drei, sich umzudrehen. Dort stand, grinsend wie eine Katze, die einen Becher Sahne entdeckt hatte, Mrs Drake aus Kabine A 7 mit ihrer finster dreinblickenden Tochter Victoria. Mrs Drake trug einen anderen Hut als zuvor, eine weit aufwendigere Angelegenheit, und dazu einen völlig unnötigen Sonnenschirm. Ihr kreisrundes Gesicht strahlte vor Glück, Mr Robinson hier anzutreffen, wobei sie Miss Hayes von Kopf bis Fuß musterte, als argwöhnte sie, jemanden aus der Arbeiterklasse vor sich zu haben, der ganz und gar nicht in ihre vornehme Gesellschaft passte.
    Victoria starrte Edmund misstrauisch an.
    »Ich bin’s«, sagte die ältere Frau nach einer Pause, um die Peinlichkeit eines möglichen Nicht-Wiedererkennens zu vermeiden. »Mrs Drake. Wir sind uns begegnet, als meine Tochter und ich nach unseren Zimmern suchten.«
    »Ach ja«, sagte Mr Robinson. »Mrs Drake. Wie schön, Sie wiederzusehen.«
    »Was für ein Zufall, dass wir uns erst unten treffen und dann, kaum dass wir an die Luft kommen, gleich wieder. Ich habe zu Victoria gesagt, ich habe gesagt: ›Sieh doch, da sind der nette Mr Robinson und sein Sohn. Gehen wir hin und begrüßen wir sie. Sie werden sicher erfreut sein, uns wiederzusehen.‹ Habe ich das nicht gesagt, Victoria?«
    »Ja, Mutter«, sagte Victoria brav und fuhr, ohne jemanden direkt anzusprechen, fort: »Ist die Stadt nicht schon ungeheuer weit weg? Wir sind kaum fünf Minuten unterwegs, und schon versinkt sie im Dunst.«
    »Was nur gut ist«, sagte Mrs Drake. »Mir hat Antwerpen nicht gefallen, kein bisschen. Die Stadt stinkt, und ihre Bewohner sind Diebe, allesamt, bis zum letzten Mann. Finden Sie nicht auch, Mr Robinson? Ich nehme an, Sie haben es genauso empfunden. Sie scheinen mir ein Mann von guter Herkunft zu sein.«
    »Antwerpen hat uns nicht so gut gefallen wie Paris«, gab Edmund zu.
    »Oh. Dann waren Sie gerade in Paris?«, fragte Mrs Drake und drehte den Kopf, um den Jungen anzusehen. »Victoria und ich haben den Winter dort verbracht. Wo haben Sie gewohnt? Wir haben ein Appartement in der Stadt. Das ist angenehm, da wir jedes Jahr mindestens drei oder vier Monate dort sind. Mr Drake bleibt für gewöhnlich in London, wo er seinen Geschäften nachgeht. Ich mag vor allem das Theater. Könnte man nicht sterben für das Theater, Mr Robinson?«
    »Das ist Miss Hayes«, antwortete er, lenkte die Aufmerksamkeit auf die fünfte Person in der Gruppe und überhörte Mrs Drakes Frage. Martha hatte sich während des bisherigen Gesprächs etwas unwohl gefühlt und sich gefragt, ob die vier wohl alte Freunde waren. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, sich ohne ein Wort davonzuschleichen, vielleicht würden sie es ja gar nicht bemerken, oder es war ihnen egal. »Eine Mitreisende.«
    »Sehr erfreut, Miss

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