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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Passagiere an Bord zu nehmen, womit es genau dreizehn Uhr dreißig wäre, gerade so, wie er es Carter aufgetragen hatte. Aus ihm unerfindlichen Gründen ärgerte ihn das, obwohl es genau seinem Befehl entsprach. Ihm wurde bewusst, dass er bei diesem Billy Carter mit etlichen Fehlern rechnete und gleich dagegen angehen wollte. Wenn der Mann seine Schwächen jedoch auch weiterhin zu verstecken vermochte, würde es schwer werden, ihn zu disziplinieren.
    »Ein Bursche wie der«, erklärte er laut, obwohl sich kein Zuhörer in seiner Kabine befand, »hätte in der Navy niemals überlebt.« Und dann stand er auf und betrachtete sich im Spiegel, setzte die Mütze auf, zog sich die Jacke gerade und ging hinaus, um der Mannschaft seine navigatorischen Anweisungen zu geben.
     
    Nachdem sie ihr Gepäck in der Kommode und dem kleinen Schrank gegenüber vom Etagenbett untergebracht hatten, ließ sich Mr John Robinson von seinem Sohn Edmund dazu überreden, das Verschwinden Antwerpens vom Deck der
Montrose
aus zu verfolgen, obwohl er gern in seiner Kabine geblieben wäre und sein Buch
Der Hund der Baskervilles
angefangen hätte. Er betrat das kleine Bad und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Ein graues Handtuch, das sich rau anfühlte und nach Waschmittel roch, hing auf der Stange neben dem Waschbecken, und er betrachtete sich im Spiegel, als er sich damit das Gesicht abtrocknete. Wie Kapitän Kendall erschrak auch er angesichts seines Spiegelbilds, das ihm ungewohnt fremd vorkam. Es war nicht allein die rasierte Oberlippe und der sprießende Backen- und Kinnbart. Seine Züge wirkten noch abgespannter als in London, die Haut ein wenig teigiger und die Tränensäcke unter den Augen dunkler als je zuvor.
    »Das ist nur der fehlende Schlaf«, sagte Edmund, als sein Vater ihn besorgt darauf aufmerksam machte. »Wir hatten viel zu tun in Antwerpen und sind kaum zur Ruhe gekommen. Aber jetzt können wir uns elf Tage lang erholen. Wenn wir in Quebec ankommen, fühlst du dich wie neugeboren.«
    »Ich habe die Zeit in Belgien ziemlich genossen«, sagte Mr Robinson mit ruhiger Stimme und klopfte sich leicht auf die Wangen, um so vielleicht etwas Farbe in sie zu bekommen, eine Erinnerung an die Jugend. »Vermisst du unser Zuhause noch nicht?«
    »Natürlich nicht. Ich muss mich sowieso umgewöhnen. Kanada wird ganz anders sein als London, denke ich.«
    Mr Robinson nickte zustimmend.
    »Meinst du, wir kehren je zurück?«, fragte Edmund.
    »Nach England?«
    »Ja.«
    »Vielleicht eines Tages. Aber zunächst mal müssen wir ein neues Leben anfangen, und es ist das Beste, sich darauf zu konzentrieren. In ein paar Wochen schon wirst du gar nicht wieder zurückwollen, und England wird nichts weiter für dich sein als eine schlimme Erinnerung. In ein paar Monaten schon werden wir die Namen unserer alten Freunde vergessen haben.
Meiner
alten Freunde, meine ich«, verbesserte er sich nach einer kurzen Pause.
    Edmund war sich da nicht so sicher, doch er widersprach seinem Vater auch nicht. Er schob den letzten der Koffer unter das untere Bett, und die fest verschlossene Hutschachtel, die in einem von ihnen gewesen war, kam auf den Schrank. Edmund hatte sie mit Pflaster und Schnur gesichert, damit nichts aus ihr herausfiel.
    »Warum musstest du unbedingt dieses Ding mitnehmen?«, fragte Mr Robinson und sah kopfschüttelnd zu ihr hinauf. »Es ist so eine Last.«
    »Ich habe es dir doch erklärt. Die Schachtel enthält meine ganz persönlichen Besitztümer, und sie hat genau die richtige Größe und Form.«
    »Gott sei Dank war sie im Koffer«, sagte Mr Robinson. »Stell dir einen Jungen vor, der mit der Hutschachtel einer Dame herumläuft. Da hätten wir im Hafen einige verwunderte Blicke auf uns gezogen.« Er klopfte leicht gegen die Seite der Kommode und sah nervös zur Tür hinüber. Das tiefe Tuten des Schiffshorns ertönte jetzt alle paar Minuten und bereitete ihm Kopfschmerzen.
    »Wir legen bald ab«, sagte Edmund.
    »Du kannst gerne schon an Deck gehen«, sagte Mr Robinson, »wenn du das Ablegen mitverfolgen willst. Dazu brauchst du mich doch sicher nicht?«
    »Ich
brauche
dich nicht, aber ich
wünsche
mir, dass du mit dabei bist. Ich möchte, dass wir Europa gemeinsam in der Ferne verschwinden sehen. Es würde Unglück bringen, wenn ich allein da oben stünde. Im Übrigen werde ich nervös, wenn ich allein bin, das weißt du. Ich bin …« Er streckte die Hände aus, um zu unterstreichen, dass er nicht einmal die richtigen Worte

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