Der freundliche Mr Crippen | Roman
Straße hinunterging. Sie blieb einen Moment stehen und drehte sich noch einmal um, sah jedoch nicht, wie er zu ihr hinblickte, winkte ein Taxi heran und blies einen Kuss in seine Richtung, bevor sie einstieg und davonfuhr.
Später am Abend stand Ethel allein am Bug der
Mercurial,
ließ Liverpool hinter sich und war auf dem Weg nach Amerika. Sie hielt die Reling gefasst, schloss die Augen und dachte an ihren teuren, toten Geliebten. Sie wollte die anderen Passagiere während der Überfahrt meiden und mit niemandem reden, wusste aber, dass das schwierig werden würde, da sie sich ihre Zwischendeckkabine mit drei anderen jungen Frauen teilte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die herausfanden, wer sie war, und Ethel graute vor dem Aufruhr, der dann entstehen würde. Aber das alles war im Moment noch weit weg.
Stattdessen erinnerte sie sich an den Tag ihrer Ankunft im Antwerpener Hafen, kurz bevor sie an Bord der
Montrose
gegangen waren. Wie aufgeregt sie gewesen waren, wie voller Liebe. Und dass sie tatsächlich beinahe davongekommen wären. Aber Hawley hatte recht: Sie war noch jung, sie konnte überleben. Sie hatte die Zukunft noch vor sich und war es ihm schuldig, das Beste daraus zu machen. Schließlich hatte er sein Leben geopfert, um ihr das ihre zu schenken. Sie hatte ihn wirklich geliebt, daran bestand kein Zweifel, aber er war auch der erste Mann gewesen, den sie je so kennengelernt hatte. Vielleicht, dachte sie, war es einfach nur eine Obsession gewesen, eine Romanze, die sie genossen und von der sie sich hatte davontragen lassen. Und wenn sie solche Gefühle für Hawley Crippen gehabt hatte, dann musste das doch auch mit einem anderen gehen?
Sie lächelte und sah aufs Meer hinaus. Vor ihr lag Amerika.
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Anmerkung des Autors
Wenn ich während der Arbeit an diesem Buch erzählte, dass es von Dr. Crippen handelte, fand ich mich oft in der recht merkwürdigen Situation wieder, ihn mit dem Kommentar zu verteidigen, er habe doch »nur eine« Person ermordet, seine Frau Cora. Im allgemeinen Bewusstsein scheint er ein scheußlicher Serienmörder zu sein, der sich seinen ewigen Platz in der Kammer des Grauens redlich verdient hat. Ganz offenbar ist der Hawley Crippen meines Romans jedoch nicht so, wie man ihn uns über die Jahre nahegebracht hat. Aber mein Crippen ist ja auch eine Erfindung, und die Vorgänge in jener Nacht, als Cora Crippen ihr blutiges Ende fand, entspringen allein meiner Fantasie.
Etliches in diesem Buch entspricht den Tatsachen des Falles. So ist Inspector Dew tatsächlich »Mr Robinson« und »Edmund« über den Atlantik gefolgt, Louise Smythson war wirklich die Erste, die hinter Cora Crippens Verschwinden ein Verbrechen vermutete, und Kapitän Kendall hat in der Tat zufällig das Geheimnis von »Vater« und »Sohn« gelüftet und Scotland Yard mithilfe des neu installierten Marconi-Telegrafen alarmiert. Vieles andere jedoch wurde erfunden, um der Geschichte Spannung zu geben.
Dennoch mag es einige Leser interessieren, dass Ethel LeNeve nach ihrem Freispruch England verließ und sich schließlich in Toronto niederließ. Sie änderte ihren Namen, fand eine Stelle als Sekretärin, heiratete, wurde Mutter und sprach nie wieder von den Geschehnissen, die sie in Munyon’s homöopathischen Laden, auf die
Montrose
oder zu Dr. Hawley Harvey Crippen gebracht hatten. Sie starb 1967 im Alter von vierundachtzig Jahren.
Dr. Crippens letzte Bitte war, ihn mit einem Foto seiner Geliebten zu begraben. Ethel bat in ihrem Testament ebenfalls darum, ein Bild von Crippen in den Händen zu halten, wenn ihr Sarg geschlossen würde. Beiden Bitten wurde entsprochen.
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Danksagung
Besonderer Dank gilt meinen Freunden im Wexford Bookshop, die mir, während ich dieses Buch geschrieben habe, ein wunderbares Jahr lang Gesellschaft geleistet haben, vor allem Angie Murphy, Conor Dunne, Joanne O’Leary, John Harper, Linda Cullen, Lindsay Tierney, Luke Kelly, Maggie Niotis und Paula Dempsey.
Dank auch an Ann Geraghty, Anne Griffin, Bob Johnston, James Lowry, Shane Duggan und Tim Hendy für all die Besuche und ihre treue Freundschaft, und an Paul O’Rourke, der mich die ganze Zeit begleitet hat.
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John Boyne, geboren 1971, gelang der internationale Durchbruch als Schriftsteller mit seinem Roman
Der Junge im gestreiften Pyjama
. Er stand in vielen Ländern auf den Bestsellerlisten, wurde für das Kino verfilmt und von der Kritik als »ein kleines Wunder« (
The Guardian
)
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