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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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sich ein Junge besonders in sie verguckt, der neunzehnjährige Sohn eines Börsenmaklers namens Kenneth Cage, förmlich besessen war er von ihr und hatte damit gedroht, sich die Kehle aufzuschlitzen, sollte sie ihn nicht heiraten. Aber der junge Mann hatte künstlerische Ambitionen und neigte zu wilden, dramatischen Ankündigungen. Victoria hatte ihm daraufhin ungerührt mitgeteilt, dass sie sich, sollte sich bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr
niemand
ihretwegen umgebracht haben, für eine absolute Versagerin halten würde. Am Ende hatte er zwei Töpfe emulgierter Farbe geschluckt, um sich zu vergiften, aber der Versuch war fürchterlich danebengegangen. Statt zu sterben oder Victoria ausreichend zu beeindrucken, dass sie seinem Charme erlag, hatte er zwei Wochen unter schlimmstem Durchfall gelitten und noch monatelang sämtliche Schattierungen der drei Grundfarben in die Schüssel gepinkelt. Und jetzt dieser Edmund, der in ihrem Alter war, fürchterlich gut aussah, mit markanten Wangenknochen, weichen roten Lippen, glatter Haut und den schönsten Augen, die sie je gesehen hatte. Er war schlank und hatte genau den Körperbau, den sie so teuflisch attraktiv fand, aber er tat nicht nur nichts, um sie für sich einzunehmen, sondern schien völlig gleichgültig zu sein. Er ließ sie stehen, ohne dass sie ihn weggeschickt hätte. Das würde sich ändern, beschloss sie. Sie würde dafür sorgen, dass er sich unsterblich in sie verliebte, noch bevor die Reise vorüber war. Und dann würde sie ihn benutzen, abservieren und ihm zeigen, wie es war, jemanden wie sie zu verlieren.
    »Ich denke, ich werde in meine Kabine gehen«, sagte Martha Hayes, als alle wieder zusammenstanden. Sie hatte kaum ein Wort äußern können, während Mrs Drake auf Mr Robinson einredete, und war nicht gewillt, sich länger ignorieren zu lassen. Trotzdem war es schicklich, sich höflich zu verabschieden.
    »Wie schön, Sie kennengelernt zu haben, Miss Hayes«, sagte Mr Robinson und lüftete den Hut.
    »Das finde ich auch, und nochmals vielen Dank, dass Sie meinen Hut gerettet haben«, sagte sie und nickte den beiden Frauen zu. »Mrs Drake. Miss Drake.«
    »Auf Wiedersehen, Miss Hayes«, sagte Mrs Drake mit lauter Stimme und sah der jüngeren Frau kopfschüttelnd hinterher. »Wie sich manche Menschen anziehen, wenn sie reisen«, sagte sie mit einem sanften Lachen und wandte sich wieder Mr Robinson zu. »Die Ärmste kann sich wahrscheinlich nichts Besseres leisten. Aber eine angenehme Art hat sie, meinen Sie nicht auch, Mr Robinson? Sehr anspruchslos.«
    »Ich denke, vielleicht sollten Edmund und ich ebenfalls in unsere Kabine zurückkehren«, sagte er.
    »Jetzt schon? Aber die Sonne kommt doch gerade erst heraus. Ich dachte, Sie drehen mit mir vielleicht eine kleine Runde über das Deck. Um das Territorium zu erkunden, wie man so sagt. Ich würde so gern mehr über Sie erfahren.«
    »Das werden Sie ohne Zweifel«, sagte Mr Robinson und fasste Edmund beim Arm. »Wir haben noch etliche Tage vor uns, fürchte ich.«
    »Das fürchten Sie?«, sagte sie überrascht.
    »Ich bin nicht der beste Seefahrer dieser Welt«, erklärte er. »Ich denke, ich ruhe mich etwas aus.«
    »Ah, Sie meinen, Sie müssen erst noch Ihre Seemannsbeine finden. Nun, aber sicher, Mr Robinson. Ich hoffe, wir sehen uns später. Bis dahin werden Victoria und ich erkunden, was es an Bord an Unterhaltungen für die Passagiere der ersten Klasse gibt.«
    »Ausgezeichnet. Bis später dann«, sagte Mr Robinson und ging davon. »Was für eine Frau«, flüsterte er Edmund zu, als sie außer Hörweite waren. »Die könnte für England reden. Lass mich nicht noch einmal mit ihr allein. Am Ende werfe ich sie noch über Bord.«
    »Ich werde dich im Auge behalten, wenn du mir die Tochter vom Leib hältst«, sagte Edmund. »So ein arrogantes … Ich bringe es nicht über mich, das Wort auszusprechen.« Und einen Moment später fragte er noch: »Verträgst du die See wirklich nicht?«
    »Doch, doch. Ich wollte nur zurück in die Kabine, das ist alles. Mit dir.«
    Edmund lächelte. »Das hättest du nur zu sagen brauchen«, sagte er und holte den Schlüssel aus der Tasche.
     
    Billy Carter stand schon seit einer Stunde im Salon des Friseurs, einer kleinen Kabine auf einem der unteren Decks des Schiffes, die nicht so edel aussah, wie die offizielle Bezeichnung klang. Jean Dupuis, der frankokanadische Friseur, der seit zehn Jahren bei freier Kost und Logis auf dem Atlantik hin- und herfuhr,

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