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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
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vertraglich gebundener Diener, dessen Bleiberecht von dem fortgesetzten Wohlwollen meines Arbeitgebers abhing. Danke, Juan-Bautista, dachte ich, als ich mich ins Bett legte, dass du mir geholfen hast, den Schleier wegzureißen, hinter dem das alles verborgen lag!
    Doch ich muss in einem eigenartigen Gefühlszustand gewesen sein, einer quasihypnotischen Benommenheit, denn als ich am Morgen aufwachte, empfand ich etwas völlig Anderes. Nun traf mich das riesige Ausmaß dessen, was ich im Begriff stand aufzugeben. Wo sonst konnte ich – ohne Geld und Familienkontakte und in so jungen Jahren – auf ein derart stattliches Einkommen hoffen? Würde ich diese Stadt der Chancen mit ihrer magischen Dynamik und Hochspannung nicht vermissen? Was war mit meiner Pflicht Erica oder vielmehr mir selbst gegenüber, die daraus erwuchs, dass ich sie begehrte? Und wie würde ich Jim gegenübertreten?
    Wenn Sie, Sir, jemals das Ende einer großen Liebesbeziehung durchgemacht haben, werden Sie vielleicht verstehen, was ich damals empfand. In solchen Situationen gibt es gemeinhin einen Augenblick der Leidenschaft, in dem das Undenkbare gesagt wird; dem folgt ein Gefühl der Euphorie, endlich frei zu sein, die Welt erscheint frisch, als sähe man sie zum ersten Mal; dann kommt die unvermeidliche Phase des Zweifelns, der Reue, des verzweifelten und aussichtslosen Zurückruderns, und erst später, wenn die Emotionen nachgelassen haben, kann man die Reise, die man hinter sich gebracht hat, mit Gleichmut betrachten. Bei mir kamen Zweifel und Reue recht schnell, was – nach meiner Erfahrung mit unserer Spezies – häufig geschieht, und als ich in die U-Bahn stieg, um mich bei Underwood Samson zum Dienst zu melden, befand ich mich in einem Schockzustand ähnlich dem, der einen befällt, wenn man sich das Knie schlimm verdreht hat, aber noch keinen Schmerz spürt.
    Nicht dass ich überzeugt war, einen Fehler begangen zu haben; nein, ich war lediglich nicht überzeugt davon, keinen begangen zu haben. Mit anderen Worten, ich war verwirrt. Dennoch nötigte mich mein Stolz, mir die unerwartete Trauer möglichst nicht anmerken zu lassen. Ich gestattete meinem Blick nicht, auf dem eindrucksvollen Empfangsraum zu verweilen – der mich jetzt eher an die schimmernde Fassade eines erhabenen und exklusiven Tempels erinnerte –, oder auf der spektakulären Aussicht aus unseren Fenstern, ich gestattete mir nicht, eine Schachtel mit meinen Visitenkarten einzustecken, dem elegant gedruckten Beweis dafür, dass ich einstmals unter Hunderten ausgewählt worden war, hier sein zu dürfen. Ich ließ mich einfach von den beiden Sicherheitsleuten dirigieren, die links und rechts von mir standen und zusahen, wie ich eine begrenzte Menge eindeutig persönlicher Besitztümer in einen kleinen Pappkarton packte, und mich dann zur Personalabteilung zu meinem Entlassungsgespräch begleiteten.
    Das war überraschend kurz – hart, beängstigend förmlich, jedoch ohne gegenseitige Vorwürfe –, und als die erforderlichen Formulare unterzeichnet und die Daten der leistungsrelevanten Merkmale beisammen waren, sagte man mir, Jim wolle mich noch sprechen. Er trug einen dunklen Anzug und eine dunkle Krawatte – Trauerkleidung, wie ich fand –, und er sah aus, als hätte er zu wenig geschlafen. »Da haben Sie uns ja ganz schön angeschissen, mein Junge«, sagte er. »Ja, stimmt«, antwortete ich. »Es tut mir leid.« »Ich halte nicht sehr viel von Mitgefühl am Arbeitsplatz«, fuhr er fort. »Ich habe keinen Augenblick gezögert, Sie zu feuern. Ja, ich wünschte, ich hätte es schon vor einem Monat getan und uns die Kopfschmerzen erspart, die Sie uns in Valparaiso bereitet haben. Aber«, er machte eine Pause, »ich sage Ihnen auch Folgendes. Ich mag Sie, Changez. Ich verstehe, dass Sie in einer Krise stecken. Sollten Sie je einen Menschen brauchen, bei dem Sie sich etwas von der Seele reden wollen, dann rufen Sie mich an, und wir trinken ein Bier zusammen.« Ich bekam einen Kloß in den Hals; ich konnte nicht antworten. Ich nickte langsam, eine Geste, die einer Verbeugung nicht unähnlich war.
    Nachdem ich Jims Büro verlassen hatte, wurde ich zu den Fahrstühlen geleitet. Ich merkte, wie tief das Misstrauen war, das ich während dieser wenigen vergangenen, von Bart und Groll geprägten Wochen bei meinen Kollegen geweckt hatte; nur Wainwright kam, um mir die Hand zu schütteln und sich zu verabschieden, die anderen betrachteten mich, wenn überhaupt, mit offenkundiger

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