Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
Beklommenheit und, in manchen Fällen, einer Furcht, die eher angebracht gewesen wäre, wenn ich wegen eines Mordkomplotts gegen sie verurteilt worden wäre und nicht nur in einem laufenden Projekt meinen Posten verlassen hätte. Die Wachleute wichen mir erst von der Seite, als ich außerhalb des Gebäudes war, und erst da gestattete ich mir, mir mit dem Handrücken über die Augen zu wischen, denn sie hatten ein wenig getränt.
Sie müssen bedenken, dass ich erst zweiundzwanzig und dies meine erste richtige Arbeit gewesen war; in einem solchen Alter und einer solchen Lage haben Ereignisse ein emotionales Echo, das vielleicht übertrieben ist. Jedenfalls war mir, als wäre eine Welt untergegangen – was ja auch so war, und ich ging zu Fuß zum East Village. Es war vermutlich ein ziemlich merkwürdiger Anblick – ein aufgewühlter, behaarter Pakistani, der einen unbeschrifteten Karton mitten durch Manhattan trug –, aber ich erinnere mich nicht, böse Kommentare von Passanten gehört zu haben. Ich war allerdings auch zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um sie zu bemerken.
In meiner Wohnung goss ich mir einen Whiskey ein und saß gedankenverloren da. Es war noch früh – noch nicht Mittag –, also beschloss ich, meine Familie anzurufen. Mein Bruder ging dran. Er habe das Geld erhalten, das ich ihm geschickt hatte, sagte er, und die Atbeiter hätten schon unsere verrotteten Röhren freigelegt. Bis morgen sollten sie ersetzt sein. Ich sagte ihm, ich hätte mich entschieden, nach Lahore zurückzukommen. Er versuchte, mich davon abzubringen, die Spannungen mit Indien nähmen zu. Er sei unlängst in Islamabad gewesen, sagte er, Frauen und Kinder von ausländischen Botschaftsangehörigen und Mitarbeitern von NGOs verließen schon das Land. Ich erklärte ihm, ich hätte keine Wahl; »Sie haben mich gefeuert«, sagte ich, »und bald wird mein Visum ungültig.« Er sagte, natürlich werde die Familie sich um mich kümmern. Ich sagte nicht, dass ich gehofft hätte, ich würde derjenige sein, der sich um sie kümmerte, und nachdem wir aufgelegt hatten, trank ich noch eine Weile weiter.
Aber Ihr Glas, Sir, ist nun schon seit geraumer Zeit leer. Soll ich die Rechnung kommen lassen? Ein kurzer Wink reicht, sehen Sie, da kommt er schon. Wie viel, fragen Sie? Da machen Sie sich mal keine Sorgen; Sie sind hier mein Gast, das – es ist ja nur ein kleiner Betrag – übernehme ich. Sie möchten die Hälfte bezahlen? Auf gar keinen Fall, außerdem bezahlen wir hier alles oder nichts. Sie haben mich daran erinnert, wie fremdartig ich das Konzept fand, dass Bekannte sich eine Rechnung teilen, als ich noch neu in Ihrem Land war. Ich bin dazu erzogen worden, in solchen Dingen gegenseitige Großzügigkeit über mathematische Präzision zu stellen; mit der Zeit gelangt man bei beidem zu einem ausgewogenen Verhältnis.
Allerdings hatte man mich nicht in der Etikette unterwiesen, wie man am besten mit einer Geliebten in Kontakt tritt, die sich in eine Heilanstalt zurückgezogen hat, und so schwankte ich, ob ich Erica eine Mail schreiben oder sie persönlich besuchen sollte. Schließlich wurde mir die Entscheidung abgenommen. Ich schickte ihr eine Mail, doch sie kam zurück mit dem Vermerk, sie könne nicht gesendet werden, weil der Posteingang voll sei, also mietete ich mir ein Auto und erschien unangemeldet in dem Heim. Am Empfang sagte man mir, Besucher ohne Einladung seien nicht willkommen – man könne mir nicht einmal bestätigen, ob Erica überhaupt da sei –, doch gerade als man mich auffordern wollte zu gehen, sah ich die Schwester, die ich bei meinem früheren Besuch kennengelernt hatte, und bat sie, ein gutes Wort für mich einzulegen.
»Ich rede mit ihm«, sagte sie zu der Frau am Empfang und nahm mich beiseite. Sie wirkte verstört und meinte, ich solle mich setzen. »Was wissen Sie?«, fragte sie mich. »Was ich weiß?«, fragte ich. »Worüber?« »Es tut mir sehr leid«, sagte sie. »Erica ist nicht mehr da.« Ich fragte sie, was genau sie mit nicht mehr da meine, und die Schwester erklärte es mir. Erica war zwei Wochen zuvor verschwunden, und zwar kurz nachdem ich sie zuletzt gesehen hatte. Sie war anfangs nicht gern allein gewesen im Heim und hatte Stunden mit den Schwestern, den Beratern und den anderen Patientinnen verbracht, besonders aber mit der Schwester, mit der ich jetzt sprach. Doch gegen Ende ihres Aufenthalts war sie immer häufiger ohne Begleitung umhergestreift, bis sie eines Tages fortgegangen und
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