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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
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Möwen auf meiner Höhe fliegen sah. Es war ein ärmliches Viertel, auf den Wänden waren bunte, graffitiartige Wandgemälde, und Kinder rasten auf Holzkarren vorbei, die wie Versandkisten aussahen, an denen man Räder befestigt hatte. Das Haus selbst war massig und schön, es erinnerte an ein Boot, das über die Bucht hinausragt; darunter fiel stufenförmig ein Garten ab, und hinter der Bar war ein konvexer Spiegel, mit dessen Hilfe Neruda seine Gäste überzeugte, dass sie betrunken waren. Ich verweilte auf der Terrasse und sah zu, wie die Sonne am Himmel tiefer sank. In der Ferne spielte jemand Gitarre, es war eine zarte Melodie, ein Lied ohne Worte.
    Ich dachte an Erica. Mir kam der Gedanke, dass meine Versuche, mit ihr zu kommunizieren, vielleicht zum Teil daran gescheitert waren, dass ich bei so vielen bedeutsamen Fragen nicht wusste, wo ich stand; mir fehlte ein stabiler Kern . Ich wusste nicht recht, wo ich hingehörte – nach New York, nach Lahore, beidem, keinem –, und aus dem Grund konnte ich ihr, als sie sich Hilfe suchend an mich wandte, nichts Substanzielles geben. Vielleicht war ich auch deswegen bereit gewesen, in Chris’ Person zu schlüpfen, weil meine eigene Identität so schwach war. Dadurch aber – und weil ich außerstande war, ihr eine Alternative zu ihrer chronischen Nostalgie zu bieten – mochte ich Erica noch tiefer in ihre Wirrnis gestoßen haben. Ich beschloss, ihr eine Mail zu schreiben, vielleicht als eine Art Entschuldigung und als Einladung, den Kontakt zwischen uns, den sie praktisch abgebrochen hatte, wieder aufzunehmen, und ich erinnere mich, »Senden« gedrückt zu haben, ohne auch nur noch einmal durchzulesen, was ich geschrieben hatte.
    Doch die Tage vergingen ohne eine Antwort, und ich verlor zunehmend die Hoffnung, dass noch eine kam. Ich rief meine Eltern an, die mir sagten, die Lage in Pakistan sei weiterhin prekär; es ging das Gerücht, Indien handele mit dem stillschweigenden Einverständnis Amerikas und beide Länder wollten durch die Androhung von Gewalt unsere Regierung zu einer Änderung ihrer Politik bewegen. Außerdem war die Hauptwasserleitung unseres Hauses gebrochen – die Rohre sollten schon lange ersetzt worden sein –, und der Druck war nun so niedrig, dass Duschen unmöglich geworden war; sie behalfen sich mit Eimern und Kellen. Das veranlasste mich, erneut über die Absurdität meiner Lage nachzudenken, nämlich zu einer Zeit, da meine Familie Hilfe brauchte, zwei Hemisphären – wenn es so etwas denn gibt – von zu Hause entfernt zu sein.
    Die einzige Form, ihnen unter die Arme zu greifen, war, ihnen Geld zu schicken, und das tat ich; ich überwies die kleinen Rücklagen, die ich noch hatte, an meinen Bruder, weil mein Vater sich weigerte, sie anzunehmen. Der Vorgang, meine Bank anzurufen, um den Transfer zu regeln, hätte mir eigentlich die Bedeutung meines Jobs vor Augen führen sollen, denn auf eine andere Einkommensquelle konnte ich nicht zurückgreifen. Dennoch hielt meine Gleichgültigkeit meiner Arbeit gegenüber unvermindert an. Es gab nun keine Möglichkeit mehr, den Vizepräsidenten zu täuschen; meine Versäumnisse waren nicht mehr zu übersehen, und seine Verweise wurden immer gröber. Rückblickend frage ich mich, warum er sich in diesem Stadium nicht an Jim wandte, um mich ersetzen zu lassen, andererseits war es auch nicht weiter überraschend: Die Aufgabe eines Vizepräsidenten in unserer Firma bestand – ungeachtet des »Vize« in dem Titel – darin, so autonom wie möglich zu arbeiten. Ein guter Vizepräsident erledigte die Dinge , egal was es kostete, und vorzeitig um Hilfe zu bitten hätte bedeutet, das Vertrauen seines Vorgesetzten in seine Fähigkeiten zu erschüttern.
    Was mich betraf, so stand ich eindeutig auf der Schwelle zu einer großen Veränderung; es bedurfte nur noch eines letzten Katalysators, und in meinem Fall erfüllte diese Funktion ein Mittagessen. Juan-Bautistas Einladung traf mich unvorbereitet; als ich einmal an seinem Büro vorbeiging, meinte er einfach, es wäre doch schade, in Valparaiso gewesen zu sein, ohne einen in Salz gegarten Zackenbarsch probiert zu haben, und da er am Nachmittag in sein Lieblingsrestaurant gehen wolle, sollte ich ihn doch – falls ich Zeit hätte – begleiten. Aus Höflichkeit und Neugier und auch, weil mir jeder Vorwand recht war, um nicht in die vergiftete Atmosphäre unseres Team-Raums zurückzumüssen, sagte ich, dass es mir eine Ehre wäre, und ehe ich michs versah, ging

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