Die Zelle: Rechter Terror in Deutschland (German Edition)
[zur Inhaltsübersicht]
Das Desaster
Vorwort von Hans Leyendecker
Eine Zelle – in der Natur ist das ein hochkomplexer Organismus, mit einem Nukleus und mit einer Kernmembran, die ihr Plasma umschließt, und Poren an der Kernhülle, durch die genetische Informationen an ihre Funktionsorganellen weitergegeben werden. Zellen haben ein Eigenleben, sie sind dennoch an bestimmte Strukturen gebunden und abhängig von Wechselwirkungen mit ihrem Umfeld.
So ähnlich muss man sich das Verhältnis der Zwickauer Terrorzelle zur Neonazi-Szene vorstellen. Auf jeder Entwicklungsstufe der Organisation, die sich «Nationalsozialistischer Untergrund» nannte, tauchten Leute vom rechten Rand auf, die den Mördern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos behilflich waren. Da sind die Geldsammler, die Spender, die Beschaffer von Ausweispapieren, die Vermittler von Verstecken – und auch die Lieferanten der Waffen.Die Zelle hätte ohne die breite Unterstützung nicht leben können. Irgendwo war immer ein brauner «Mikroorganismus», der weiterhalf. Dass ein früherer Vize-Bundesvorsitzender der NPD die anwaltliche Vollmacht eines untergetauchten NSU-Mitgründers besaß, passt zur Zelle.
Es ist unfassbar: Die Zwickauer Terrorbande mit all ihren Helfern und Boten hat zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordet. Und schwer fassbar ist der Umstand, dass verschiedene Sicherheitsbehörden zwar mit riesigem Aufwand versucht haben, die Mordserie aufzuklären, aber bis zum Ende der Zelle im November 2011 nie eine Ahnung und schon gar keinen Durchblick hatten, was eigentlich vorging. Eine Neonazi-Bande konnte ungehindert mordend durch Deutschland ziehen, und die Ermittler erkannten die Mörder nicht.
Die Ermittler kamen früh auf einen Gedanken, der falsch war, und sie kamen nie mehr davon los. Sie leuchteten leere Höhlen aus, und statt eine neue Richtung zu suchen, verrannten sie sich immer mehr im selbstgewählten Höhlen-Labyrinth. Ganz kurz hatten sie mal die richtige Witterung aufgenommen, um dann wieder gewaltig in die Irre zu gehen. Elf Jahre lang hielten diverse Sonderkommissionen für einen Fall aus der tiefsten kriminellen Unterwelt, was sich am Ende als rechter Terrorismus erwies.
Das Versagen von Staatsdienern ist auch Staatsversagen.
Die krassen Fehlleistungen mehrerer Thüringer Sicherheitsbehörden ließen zunächst sogar den Verdacht aufkommen, es könnte eine Verflechtung zwischen den Ermittlern und den Mördern gegeben haben. Es war ein vorschneller Verdacht, aber die Behörden behinderten sich durch dieses Misstrauen zusätzlich selbst.
Richtig ist, dass auch die Medien, die über die Mordserie berichteten, über die Jahre beharrlich auf der falschen Spur blieben. Noch im Sommer 2011 warfen einige Blätter den Ermittlern vor, eine angebliche Spur zu vernachlässigen, die in das Milieu der organisierten Kriminalität führe. Medien waren es auch, wie in diesem Buch dokumentiert wird, die die in jeglicher Hinsicht furchtbar falsche Vokabel vom «Dönermörder» erfanden, die ein Unwort ist.
Aber es gibt Zuständigkeiten, und es gibt Verantwortung. Und zuständig waren nicht die Medien, zuständig war vor allem die Sonderkommission mit dem irreführenden Namen «Bosporus».
Verantwortlich sein heißt, die Bedingungen, Motive und Folgen unterschiedlicher Handlungsalternativen in Betracht zu ziehen und gegeneinander abzuwägen. Es fehlte nicht an gutem Willen und auch nicht an Einsatzbereitschaft – es fehlte an analytischem Vermögen und an Phantasie. So kam es zur Katastrophe.
Sie war kein Naturverhängnis, sie war nicht unabwendbar. Allerdings: War es nicht so, dass in den Parteien, Parlamenten und auch in den Medien, also in der Gesellschaft, die meisten sehr bald gelangweilt reagierten, wenn da jemand vor der Gefahr warnte, die von den vielen Neonazis ausgeht? Kennen wir, wissen wir. Neues Thema, bitte.
Es gibt seit einer Weile eine Kontroverse über die reale Zahl rechter Gewaltverbrechen seit der Wende. Journalisten, die sich mit dem Thema intensiv über Jahre beschäftigt haben, gehen von mindestens 148 Toten aus, darunter sind die zehn Opfer der aus Thüringen stammenden Terrorbande. Die Behörden zählen anders. Sie kommen auf 58 Morde. Die Fachleute beider Seiten streiten darüber, ob schwere Verbrechen, die Neonazis begangen haben, politisch motiviert waren oder nicht. Aber selbst 58 Opfer sind weit mehr, als der Terror der «Rote Armee Fraktion» (RAF) forderte, der das Land stark verändert
Weitere Kostenlose Bücher