Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
Vom Netzwerk:
amüsierten und ärgerten die Blicke von Studenten, die sie auf sich zog, weil ich nicht wusste, wie viele dieser Blicke ihrer Schönheit und wie viele ihrer Fremdheit galten; wir aßen preiswert, aber köstlich im Freien und in Mondlicht getaucht neben der Königlichen Moschee zu Abend; wir unterhielten uns über unsere Arbeit, ob wir schon bereit für Kinder waren; ich korrigierte ihr Urdu und sie meinen Kursplan, und dann liebten wir uns in unserem Bett zum Summen des Deckenventilators.
    Auch sonst wurde ich immer wieder auf Reisen geschickt, die nicht weniger heftig, aber weit flüchtiger waren. Ich erinnere mich, dass ich einmal, es war Monsun, beobachtete, wie sich in der matschigen Furche einer Reifenspur neben der Straße ein Tümpel bildete. Die Regentropfen fielen, und das Wasser stieg an den Ufern dieses kleinen Sees, als mir ein Stein auffiel, der aufrecht mittendrin stand, wie eine Insel, und ich stellte mir die Freude vor, die Erica beim Anblick dieser Szene gehabt hätte. In ähnlicher Weise erinnere ich mich an eine weitere Begebenheit; ich hatte mit meinem Roller einen Unfall gehabt, und als ich nach Hause kam und mein Hemd auszog, sah ich einen dunkelroten Bluterguss auf meinem Brustkorb, genau an der Stelle, wo ihrer einmal gewesen war. Ich starrte mich im Spiegel an, strich mit den Fingern über die Haut und hoffte, dass der Bluterguss nicht so schnell wegging, was er aber unausweichlich tat.
    Solche Reisen haben mich überzeugt, dass es nicht immer möglich ist, die eigenen Grenzen wiederherzustellen, wenn sie einmal von einer Beziehung verwischt und durchlässig gemacht worden sind: Sosehr wir uns auch anstrengen, wir können uns nicht in das autonome Wesen zurückverwandeln, für das wir uns vorher gehalten haben. Etwas von uns ist nun außerhalb, und etwas von außen in uns. Vielleicht haben Sie ja nichts Vergleichbares erlebt, denn Sie starren mich an, als wäre ich völlig verrückt geworden. Ich will nicht sagen, dass wir alle eins sind, und ich bin auch nicht dagegen – das wird Ihnen bald klar werden –, Mauern um sich zu errichten, um sich vor Verletzungen zu schützen; ich wollte lediglich gewisse Aspekte meines Verhaltens nach meiner Rückkehr erklären.
    Trotz meiner nicht unbeträchtlichen finanziellen Zwänge habe ich es Jahr für Jahr geschafft, meinen Jahrgangspflichten nachzukommen und das Princeton Alumni Weekly zu beziehen, was ich stets von vorn bis hinten durchlese, mit besonderer Berücksichtigung der Nachrichten meines Jahrgangs und der Nachrufe im hinteren Teil. Von Zeit zu Zeit stoße ich auf den Namen eines Bekannten, und durch solche winzigen Löcher spähe ich dann begierig auf das Leben, das ich zurückgelassen habe, und frage mich, wie diese Welt – die Welt von Menschen wie jenen, mit denen ich in Griechenland war – sich entwickelt hat. Erica jedoch erschien nie auf diesen Seiten, und auch wenn es möglich war, dass sie in einer der Nummern, welche die Launen der internationalen Post am Eintreffen gehindert haben, unbemerkt an mir vorbeigeschlüpft war, bereitete mir jede ihrer episodischen Abwesenheiten in gleichem Maße Hoffnung und Kummer.
    Ich weiß nicht, was ich zu finden hoffte – eine Notiz, dass ihr Roman veröffentlicht worden war und sie Jahrgangskollegen begeistert hatte, als sie zur Buchpräsentation erschien? Die endgültige Nachricht, dass ihr Leichnam identifiziert worden war? Ein Gesicht auf dem verwackelten Foto eines Jahrgangstreffens, das gut ihres sein konnte? – Ich weiß nur, dass die Zeit den Eifer, mit dem ich nach ihr suchte, nicht gemindert hatte. Monatelang schrieb ich ihr weiterhin Mails, bis ihre Adresse erlosch, danach beschränkte ich mich auf einen Brief pro Jahr, den ich am Jahrestag ihres Verschwindens abschickte, aber immer bekam ich ihn ungeöffnet zurück.
    Im April hat mein Bruder geheiratet, kurz vor meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Danach legte meine Mutter mir mit zunehmender Dringlichkeit ans Herz, dass ich es ihm doch gleichtun solle; sie glaubte, ich sei in den Fängen einer ungesunden Melancholie und dass eine eigene Familie der sicherste Weg für mich sei, wieder Zufriedenheit im Leben zu erlangen. Auch war sie der Meinung, ich verbrächte zu viel Zeit bei der Arbeit oder allein in meinem Zimmer und nicht genug mit Freunden. Einmal fragte sie mich sogar sichtlich nervös, ob ich vielleicht, es wäre ja möglich, schwul sei. Ich hatte ihr nicht von Erica erzählt, und ich fand es zunehmend schwieriger, es

Weitere Kostenlose Bücher