Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
jene, die es in Mogadischu nicht geschafft haben, betreiben ihr Gewerbe nun hier in abgelegenen Theatern oder auf Hochzeiten, die tagsüber in Bungalows gefeiert werden. Es braucht eine echte Stadt, um das Leben in einen neuen Rhythmus zu versetzen – das Ticken der Rathausuhr, das Kratzen einer Baggerschaufel, das Trillern eines Verkehrspolizisten –, all das braucht es, damit der Puls schneller schlägt.
Pünktlich entsteigen die ausländischen Würdenträger dem Konvoi, und Filsan erkennt einige von ihnen anhand der Fotos, die im überregionalen
October Star
abgedruckt waren. Der US-amerikanische Wirtschaftsattaché ist der erste, gefolgt vom ägyptischen Botschafter und einem Mann im wallenden weißen Gewand und
Kufiya
. Ungefähr ein Dutzend weiterer Funktionsträger stellt sich entlang des blau-weißen Podiums auf und wartet auf den General.
Hupen verkündet seine Ankunft. Unbeholfen rollt ein Soldat einen abgelaufenen roten Teppich vom Eingang bis zum Podium aus, und General Haaruun steigt aus einem schwarzen Mercedes. Durch die Tribünen scheint ein Stromschlag zu zucken, als er von Bodyguards umringt zu seinem Platz geht, die Atmosphäre ist angespannt, in der plötzlichen zittrigen Stille wirkt jedes Geräusch doppelt so laut. Schnell dreht Filsan sich um und überprüft die Lage hinter ihrem Rücken: Das Publikum brüllt nicht und wirft auch keine Geschosse, sondern hat den Blick starr auf den großen, hageren Mann in Militärkleidung gerichtet. Einer Körperlawine gleich, die jederzeit auf Filsan stürzen und dasStadion unter sich begraben könnte, beugen sich die Menschen auf ihren Sitzen vor.
Beim Anblick von General Haaruun hämmert Kawsar das Herz in der Brust. Er ist wie eine Hyäne – dünn, bedrohlich, seine bloße Anwesenheit scheint den Tod zu verkünden. Sie macht ihn nicht nur für Hodans Ableben verantwortlich, sondern auch für ihre Verhaftung, ihr Verschwinden und ihre Verwandlung in ein zusammengekauertes, zusammengefallenes Wesen. Trotz der Menge um sie herum spürt Kawsar, wie sich eine schwarze Decke der Trauer über sie legt, sie blind und taub und stumm macht, als befände sie sich auf dem Grund eines Brunnens und schaffte es immer nur, bis zur Hälfte hochzuklettern, ehe sie wieder den Halt verliert.
«Bleib bei uns.» Dahabo tätschelt Kawsars Hand, und sie spürt durch ihre taube Haut die Wärme der anderen.
«Wann geht es denn verflucht noch mal los?» Sie tut, als würde sie sich wieder ihrer Umgebung zuwenden, aber in Gedanken steckt Kawsar immer noch in diesem Brunnen.
«Da! Sieh mal!»
Drei MiGs dröhnen in Pfeilformation über sie hinweg, grau und langhalsig wie Geier, stoßen herab, als gierten sie nach einem Aas, und hinter ihnen werden die sechs Kondensstreifen breiter und vereinigen sich, bevor sie erneut auseinanderfallen. Die Würdenträger stehen stramm, Geier einer anderen Art; in ihrem Putz gleichen sie eher Marabus, die mit vollem Magen rasten, die Augen hinter den dunklen Brillengläsern wachsam.
Mittlerweile ist Dahabo der einzige Mensch, dessen Berührung Kawsar noch kennt. Ungefähr jeden Monat treffen sie sich bei Kawsar zu Tee und Wehklage, und Dahabo legt Wert darauf, ihr beim Sprechen eine Hand auf den Oberschenkel zu legen, als wüsste sie, wie schrecklich das Alleinleben ohne menschliche Berührung, ohne menschliche Geräusche ist. Je nach Gesprächsthema drückt, knetet oder tätschelt Dahabo, nie ist ihre Hand weit weg, eine harte, schwielige Hand, die Nägel sind tief heruntergebissen, aber sie vermittelt nicht nur Wärme,sie schenkt auch Trost. Noch so eine Sache, die das Älterwerden mit sich bringt, das ständige Bedürfnis nach Wärme. Kawsars Knochen sehnen sich nach Sonnenlicht, und sie hat sich angewöhnt, sich an den meisten Tagen in der schlimmsten Mittagshitze in ihrem Garten wie eine Eidechse zu aalen. Aber heute verlässt sie das Gefühl der Isolation und Einsamkeit nicht, trotz der Wärme der Sonne, die den Himmel hinaufwandert, und der Nähe so vieler Menschenleiber.
Aus den großen Lautsprechern dringen die Durchsagen nur verzerrt, aber das spielt keine Rolle, denn der Ablauf der Parade ist ohnehin wohlbekannt. Zuerst die Soldaten mit scherengleich auf- und zuschnappenden Beinen, dann die schwerfälligen älteren Polizisten und Polizistinnen in blauer Uniform, dann die Zivilisten in Arbeitskleidung – Lehrer, Beamte, Studenten. Einzig ihre Nachbarn und deren Kinder unter den Marschierenden zu entdecken, macht ihr Freude, wie
Weitere Kostenlose Bücher