Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Schritte. In Saba’ad hat sie nie ungehindert zwischen den überfüllten
buuls
umherrennen können, in den engen Durchgängen zwischen den Hütten saßen Frauen mit ausgestreckten Beinen; es war eine Umgebung, in der Langsamkeit, Vorsicht anstelle von kindlicher Ausgelassenheit regierten. Jetzt bildetDeqo sich ein, dass dort Hände nach ihrem Rock gegriffen und an ihr gezerrt haben, in die Erde hinein, die täglich Menschen verschluckt. Hier gibt es Platz, endlos viel Platz, breite Straßen und Gebäude ohne Ende.
Mit pfeifenden Lungen und hämmerndem Herzen, rudernden Armen und stampfenden Beinen rennt sie dahin, treibt ihren Körper an den Rand seiner Leistungsfähigkeit. Sie kommt sich schneller vor als die Autos auf der Straße, die Krähen am Himmel, die Kugeln in den Gewehren der Soldaten. Sie läuft gegen sich selbst, bis das Stadion weit hinter ihr liegt; ihre Füße stampfen im Einklang mit ihrem Herzschlag über den staubigen Boden. Sie ist eine gut geölte Maschine, die völlige Kontrolle über sich hat. Deqo kommt zu einer Brücke und überquert den vibrierenden Beton. Vorbei am zweistöckigen Oriental Hotel, vor dessen Eingang zwei Landrover parken, vorbei an der Apotheke mit den großen Fenstern, der Autowerkstätte mit Stapeln schwarzer Reifen davor, der Wellblechhütte des Schrotthändlers. Die Straßen sind menschenleer, alle paar Meter an den Ecken ein Häufchen aus Dreck, Staub und Blättern, als wären gerade Straßenfeger durchgezogen; ein Bus fährt an ihr vorbei, als sie Richtung Markt flitzt.
Die alte Frau hinten im Lastwagen schweigt, die Nase hoch erhoben, als befände sie sich in einem Taxi. Einzig hinter ihrem Hochmut kann sie sich noch verstecken, der wird ihr aber auch nichts nützen. Wie all die anderen Missetäter wird sie eine Nacht auf nacktem Boden verbringen und für ihre Notdurft einen Eimer benutzen müssen, bis man ihr sagt, dass sie gehen kann. Sie ist nicht die älteste Unruhestifterin, mit der es Filsan je zu tun gehabt hat – die Marktfrau, die General Haaruuns Konvoi bewarf, muss über achtzig gewesen sein –, aber die hier sieht wohlhabender aus, gebildeter.
Sie halten vor dem Polizeihauptrevier. Filsan hat sich nicht die Mühe gemacht, ihr Handschellen anzulegen, wozu auch? Sie wird ihnen wohl kaum davonlaufen. Die alte Frau legt sich das Kopftuch um die Wangen, Filsan reißt ihr das Tuch weg, damit sie ihr Gesicht sieht. Erst jetzt blicken sie einander in die Augen, die der alten Frau sind voller Vorwurfund Verachtung. Filsan packt sie am Arm und bringt sie ins Gebäude; sie wird über ihr Betragen im Stadion Bericht erstatten und sie den Polizeibeamten überlassen.
«Die Zellen sind voll», fährt die Polizistin am Empfang sie an und schaut nicht einmal von dem Papier hoch, das sie in der Hand hält.
«Sie hat während der Feier öffentliches Ärgernis erregt.»
Die Polizistin hebt den Kopf und betrachtet die Verdächtige. «Was hat sie getan?»
«Frauen der Guddi belästigt und bedroht.»
Die Polizistin lacht und lehnt sich zu dem winzigen öffentlichen Ärgernis vor. «Bist du nicht zu alt für so was? Schämst du dich nicht?» Sie ist ungefähr zwanzig, unter ihrem Käppi lugen blondierte Strähnchen hervor. «Wo wohnst du?»
«Guryo Samo.»
«Name?»
«Kawsar Ilmi Bootaan.»
Sie kritzelt die Angaben in ein Formular und steckt sich dann den Stift hinters Ohr. «Allzu viel Platz wird sie wohl nicht brauchen.» Die Polizistin seufzt. «Dalassen, ich übernehme sie.»
Filsan sieht zu, wie Kawsar in eine Gemeinschaftszelle geführt wird. Ihr Schritt ist langsam, sie zeigt keine Gefühlsregung, bewegt sich wie ein Touristin auf Besichtigungstour, blickt nach links und rechts, als wollte sie sagen: «Ja, genau, alles, wie es sein soll.» Mit einem Klacken schließen sich die Gittertüren hinter ihr, und weg ist sie, verschwunden im Bauch des Polizeireviers, wo sie verdaut und an einem der nächsten Tage ausgeschieden werden wird.
Saylada dadka
, denkt Kawsar. Hier endet also ihre Reise, im «Menschenmarkt». Die Glücklichen werden freigekauft, andere wiederum landen in der Leichenhalle des Krankenhauses oder verschwinden in irgendeinem Gefängnis des Landes. Dieser Ort hat ihr Kind vernichtet. Sie blickt sich um, versucht, sich vorzustellen, wo Hodan in dieser ersten Nacht saß, nachdem sie mit ihren Klassenkameraden verhaftet worden war. Die Zelle ist groß, die Wände waren früher einmal weiß, sind jetzt aber schwarzbrandig mit Schimmel überzogen,
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