Der Gebieter
trug ihr Messer am Gürtel, und ihre Armbrust hing am Sattel; der Spannmechanismus war ihren neunjährigen Armen angepasst. Wenn sie Glück hatte, würde jeder, der sie die Straße, die vom Palast wegführte, entlangreiten sah, nichts Ungewöhnliches darin erblicken und sie schnell wieder vergessen.
Das Frühlingsfest war endlich vorbei, und alle lagen noch im Bett und erholten sich davon. Helena bezweifelte, dass irgendjemand außer ihrer Amme Xanthe sich überhaupt fragen würde, wo sie steckte. Zur Schlafenszeit würde Xanthe sich natürlich Sorgen machen, aber bis dahin würde sie auch das Bild gefunden haben, das Helena in ihrer Schlafkammer mit Kreide auf die Rückseite der Tür gezeichnet hatte. Xanthe konnte nicht lesen, sonst hätte Helena ihr einen Brief geschrieben. Stattdessen hatte
sie ein Bild von ihrem Pony mit dem Bündel aus Decken und Proviant gezeichnet, und daneben eines von sich selbst, wie sie zum Abschied winkte.
Es war ja bloß für eine Nacht, und Xanthe würde ihr früher oder später verzeihen, aber nur, wenn es Helena gelang, sich vom Palast zu entfernen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn ihre Mutter nach ihr schickte und Helena nicht aufzutreiben war, würde man annehmen, dass sie mit ihren Cousins in irgendeinem abgelegenen Teil des Palastes spielte … solange sich nicht irgendein Gernegroß daran erinnerte, dass sie auf ihrem Pony ausgeritten war. Wenn das geschah, würden sie in seinem Stall nachsehen, und wenn der leer war, würde ein entsetzlicher Aufruhr losbrechen. Ihre Tanten würden zu jammern beginnen, dass sie und das Pferd von einer Klippe gestürzt oder von einem Löwen gefressen worden wären, und ihr Vater würde die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt auf die Suche nach ihr schicken. Bei dem Gedanken trieb Helena das Pony ein wenig stärker an.
Endlich bog ihr Weg von der Heiligen Straße ab. Der Pfad verlief die Hügelflanke hinauf und dann hinab zur Straße im Tal, die in die Jagdgebiete emporführte. Sobald sie außer Sichtweite des Palasts zwischen den Bäumen war, entspannte sich Helena. Das Pony wurde langsamer, und sie tätschelte ihm den Hals.
»Nicht zu langsam werden, Nestor«, sagte sie zu ihm. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns.« Der Ort, zu dem sie wollte, lag mehr als einen halben Tagesritt entfernt. Sie hatte ihn im letzten Herbst entdeckt, als sie viel weiter herumgestreunt war, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Sie hatte nur einen kurzen Blick darauf werfen und hoffen können, dass sie zurückkehren würde, wenn der Winter erst vorbei war.
Sie hatte schon früher an Jagdausflügen über Nacht teilgenommen
und manchmal ganze Tage allein im Freien verbracht. Das hier würde nicht sehr viel anders werden und war die einzige Möglichkeit für sie, ihr Geheimversteck zu erkunden und es auch geheim bleiben zu lassen.
Das war das Wichtigste, denn sonst hätte der Platz nicht ihr allein gehört: Sie hätte ihn zumindest mit anderen Kindern in ihrem Alter teilen müssen, aber höchstwahrscheinlich hätte ihn ein älterer Jugendlicher, einer der Neuen Speere, übernommen und die Kinder verscheucht. Jemand wie ihr Bruder Pylaster, der gerade das Knabenhaus verlassen und seinen ersten Speer erhalten hatte, hätte den Platz zu seinem persönlichen Königreich erklärt und nur seinen engsten Freunden gestattet, dort zu ihm zu stoßen. Er würde das Interesse daran irgendwann verlieren, wenn er kein Neuer Speer mehr war, aber bis dahin würde ein anderer Neuer Speer ihn übernommen haben. Helena würde nie Gelegenheit dazu bekommen.
Wenn sie in das Alter kam, in dem ein Junge seinen Speer empfing, würde sie Fechtübungen und Reitstunden hinter sich gelassen und den geheimnisvollen Wandel durchgemacht haben, der sie zu einer jungen Frau mit langen Röcken, Schmuck an den Ohren und nicht dem geringsten Interesse an irgendetwas Vernünftigem machen würde. Sie verdrehte bei dem Gedanken daran angeekelt die Augen, aber sie hatte es mit zu vielen ihrer Cousinen geschehen sehen, um daran zu zweifeln, dass es unvermeidlich war. Ihre Mutter würde sich durchsetzen. Jetzt aber hatte sie noch ihre Freiheit, solange sie sie nur zurückhaltend ausnutzte.
Helena kam am frühen Nachmittag an. Der Tag war grau, der Frühlingswind kühl. Hoch oben in den Bergen lag immer noch recht viel Schnee, und sie zitterte sogar in ihrer Schaffelljacke. Sie wünschte sich, die Sonne würde scheinen. Das enge Tal war dunkel und viel weniger einladend, als sie gehofft
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