Der Gebieter
das wachsende Unbehagen verstand, das unter der seltsamen Geborgenheit brodelte, die Periphys ihr geschenkt hatte. Wie konnte sie Eddis sein? Ihr Vater war Eddis. Wenn Helena je den Thron erbte, würde sie die weibliche Form des Landesnamens tragen und Eddia sein, nicht Eddis. Und das konnte nur geschehen, wenn ihre älteren Brüder Pylaster und Lias starben, und wahrscheinlich auch noch ihr jüngerer Bruder Janus. Frauen konnten in Eddis zwar den Thron erben, aber das war immer nur der letzte Ausweg. Helena mochte Pylaster ja die meiste Zeit über verachten, aber sie hatte ihn lieb, und Lias und Janus auch.
»Mach dir keine Sorgen um das, was kommen wird, Kleines« , sagte Eugenides. »Du wirst am Morgen erwachen, und das hier wird ein Traum sein, der schon verflogen ist, bevor der Tau aus dem Gras verdunstet ist. Jetzt iss deine Taube, die du nicht verdient hast, weil du eine erbärmliche Schützin bist. Ich tausche sie gegen einen Stoß Feuerholz und eine Handvoll Mandeln ein.« Er reichte ihr den Spieß und wartete, bis sie den ersten Bissen genommen hatte, bevor er zu Periphys weiterging. Die Göttin war über die Wartezeit gekränkt, aber der Dieb erwiderte ihren unleidlichen Blick mit einem eigenen, der sie verwirrt und trotzig zurückließ. Sie nahm die Taube und zeigte ihm die kalte Schulter. Er lachte und kehrte ans Feuer zurück, um zwei weitere Tauben zu holen; eine reichte er Moira, bevor er sich wieder hinauf auf den Marmorsockel schwang, um seine eigene zu essen.
Während sie aßen, war es still. Periphys schmollte und aß wie ein Spatz. Aber als sie dem Dieb über die Schulter hinweg einen verstohlenen Blick zuwarf, lächelte er.
»Du bist abscheulich«, sagte sie zu ihm.
Eugenides’ Lächeln wurde nur noch breiter. Periphys seufzte und verdrehte die Augen. Helena hatte das Gefühl, dass so etwas
schon sehr oft geschehen war. Früher oder später wurde dem Dieb immer vergeben. Dann unterhielten sich Moira, Periphys und Eugenides, und wie jedes Kind, das ein Gespräch zwischen Erwachsenen verfolgt, verstand Helena immer weniger, bis sie das Interesse verlor und sich auf die Taube konzentrierte.
Am Morgen erwachte sie aus ihrem Traum über Götter und Tempel; sie lag in ihre Decken gehüllt auf der Terrasse. Das Feuer neben ihr war verglommen, und sie war steif vor Kälte. Zitternd setzte sie sich auf. Sie sah zuerst die leere Stelle an, an der ihr Holzstapel hätte liegen müssen, und erhaschte den Traum gerade noch, als er verblasste. Im Tempel waren Götter gewesen, daran erinnerte sie sich, und der Gott der Diebe hatte ihre Mandeln gegessen. Immer noch zitternd arbeitete sie sich aus ihren Decken hervor und eilte an den herabgestürzten Steinen der Tempelmauer vorbei zu der Öffnung in der Nähe des Altars. Der Durchgang war ein gezacktes Loch, das von Geröll fast völlig versperrt war – ganz so, wie es am Vortag gewesen war. Hinter der Wand und der inneren Säulenreihe war der Boden abermals mit Dachziegeln und Schutt übersät. Die Fresken waren verschwunden, und die Feuergrube war auf einer Seite geborsten. Der Traum wirkte mit jedem Augenblick, der verging, weniger real, aber Helena klammerte sich so stur daran, wie sie nur je irgendetwas in ihrem Leben festgehalten hatte. Jenseits der Feuergrube fiel sie auf die Knie und fuhr mit den Händen über den Boden. In den Rillen zwischen den Steinen lagen Eierschalen. Keine großen Stücke, aber kleine, die vielleicht aus den Röcken der Göttin gefallen waren.
Helena schaute zu dem hoch, was über ihrem Kopf vom Dach noch übrig war. Auf den Querbalken und in den Nischen der Metopen befanden sich tausend Taubennester. Natürlich lagen Eierschalen zwischen den Steinen. Helena stand auf und ging schnell von der Feuergrube aus dorthin, wo der reich mit
Speisen gedeckte Tisch gestanden hatte; dort kniete sie sich erneut hin. Auf dem schmutzigen Boden fand sie zwischen dem Schutt, was sie gesucht hatte: einen Wachstropfen. Frisch, sauber und weiß, so dass er nur in der vergangenen Nacht von den Kerzenhaltern herabgetropft sein konnte. Sie zog ihr Messer aus dem Gürtel, um ein völlig rundes Wachsplättchen loszukratzen, und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihr Daumen passte in die Mulde, die sich im Wachs gebildet hatte, als es abgekühlt war, und sie rieb das Wachs nachdenklich an ihrem Finger. Dann öffnete sie ihre schwere Schaffelljacke und schob das Plättchen, das genau die Größe und Form eines Knopfs hatte, in den kleinen
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