Das Echo
1
Zuerst fiel Mrs. Powell der Geruch auf. Leicht süßlich. Leicht unangenehm. Sie nahm ihn an einem warmen Juniabend in der Luft wahr, als sie ihren Wagen in die Garage stellte, aber sie nahm an, daß er aus der Mülltonne ihrer Nachbarn auf der anderen Seite der niedrigen Mauer, die die Anwesen trennte, kam, und kümmerte sich nicht weiter darum. Am nächsten Morgen, als sie die Garagentür aufzog, strömte ihr der Geruch von Verwesung entgegen, und die Neugier trieb sie, in dem Stapel Kartons hinten in der Garage nachzusehen, nachdem sie ihren Wagen in die Auffahrt hinausgefahren hatte. Keinesfalls hatte sie erwartet, eine Leiche zu finden. Wenn sie überhaupt etwas erwartet hatte, dann höchstens, daß irgend jemand dort drinnen seinen Abfall deponiert hatte, und es erschütterte sie zutiefst, auf plattgedrückten Kartons einen Toten zu entdecken, der, den Kopf auf den Knien, in der Ecke kauerte.
Die Geschichte erregte vorübergehend das Interesse der Medien, hauptsächlich wegen des Ortes, an dem der Mann gefunden wurde - in einer exklusiven abgeschlossenen Wohnanlage an der Themse in der ehemaligen Hafengegend Londons -, und weil der Pathologe als Todesursache Unterernährung feststellte. Die Tatsache, daß am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in einer der reichsten Gegenden einer der reichsten Großstädte der Welt ein Mensch verhungert sein sollte, war für die meisten Journalisten von unwiderstehlichem Reiz, um so mehr, als sie von der Polizei hörten, daß der Mann unmittelbar neben einer riesigen Tiefkühltruhe voller Nahrungsmittel gestorben war. Die Meute rückte also in großer Zahl an.
Aber sie wurden enttäuscht. Mrs. Powell war für Interviews nicht zu haben und bereits aus ihrem Haus verschwunden. Und es war auch niemand da, der Auskünfte über das Leben des Toten hätte geben können, die es der Mühe wert gewesen wären, über ihn zu schreiben. Er war einer aus dem Heer von Obdachlosen, die die Straßen Londons bevölkerten, ein Trinker ohne Familie oder Freunde, dessen Fingerabdrücke aufgrund mehrerer Verurteilungen wegen Diebstahls unter dem Namen Billy Blake bei den Polizeiakten lagen. Unter Londons Polizeibeamten galt er als eine Art Straßenprediger, weil er, wenn er betrunken war, die Gewohnheit gehabt hatte, Vorüberkommende laut und aggressiv vor Untergang und Zerstörung zu warnen; da jedoch niemand seinen wirren Reden je Aufmerksamkeit geschenkt hatte, konnte auch niemand mehr über ihn sagen. Seltsam war lediglich, daß er, als er im Jahr 1991 zum erstenmal festgenommen worden war, bezüglich seines Alters gelogen hatte. In den Polizeiakten stand, er sei fünfundsechzig Jahre alt gewesen; der Pathologe schätzte sein Alter laut den amtlichen Unterlagen der Leichenschau auf fünfundvierzig.
Mrs. Powell war in diese traurige und merkwürdige Geschichte nur hineingeraten, weil der Mann in ihrer Garage gestorben war. Dennoch ging er ihr nicht aus dem Kopf, als sie zwei Wochen später, nachdem das morbide Interesse der Presse abgeflaut war, nach Hause zurückkehrte. Und da sie es sich leisten konnte, bezahlte sie seine Einäscherung, als der Coroner die Leiche schließlich freigab. Es bestand keine Notwendigkeit für sie, das zu tun - wie in anderen Bereichen der Sozialhilfe wurden auch die Bestattungskosten in solchen Fällen vom Staat übernommen -, aber sie fühlte sich ihrem ungeladenen Gast verpflichtet. Sie wählte das zweitbilligste Pauschalangebot und erschien am festgesetzten Tag zur festgesetzten Zeit im Krematorium. Wie sie erwartet hatte, waren sie und der Geistliche die einzigen Anwesenden; die Angestellten des Bestattungsinstituts waren gegangen, nachdem sie den Sarg abgestellt hatten. Es war eine ziemlich qualvolle Trauerfeier, begleitet von Musik aus dem Kassettenrecorder. Zu Beginn sang Elvis Presley Amazing Grace , dann ackerten der Geistliche und sie sich gemeinsam durch den Gottesdienst (und fragten sich unabhängig voneinander, ob Billy Blake überhaupt Christ gewesen war), und ein walisischer Männerchor intonierte Bleib ja bei mir, Gott , als der Sarg zu den Verbrennungskammern rollte und der Vorhang sich diskret hinter ihm schloß.
Mehr blieb danach kaum zu sagen oder zu tun, und nachdem sie einander die Hand gegeben und jeder dem anderen für sein Kommen gedankt hatte, gingen Mrs. Powell und der Geistliche ihrer Wege. Billy Blakes Asche, auch das gehörte zum Pauschalangebot, wanderte in eine Urne, die mit einem kleinen Schild versehen wurde, das seinen Namen
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