Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Whalen Turner
Vom Netzwerk:
Luftzug aus der offenen Tür hinter ihr streifte ihren Nacken, und sie erschauerte. Es fühlte sich echt an.
    »Du frierst. Komm näher ans Feuer.«
    Helena machte noch ein paar zögernde Schritte. Ihr ganzes Holz lag in der Feuergrube, und sie konnte seine Wärme bereits spüren. Sie sah, dass noch eine dritte Gestalt sie vom Fuß des Altars aus beobachtete  – eine weitere Frau, die an einem Kissen lehnte. Neben ihr stand ein Schreibpult, als hätte sie es gerade beiseitegestellt. Sie hielt noch eine weiße Schreibfeder in der Hand, als sie sich vorbeugte, um Helena anzusehen.
    Ein weiterer Schauer durchlief Helena, als sei jemand über ihr künftiges Grab gegangen. Sie wartete darauf, dass er sich legen würde, aber er wurde nur immer schlimmer, bis sie sich hinhockte, die Arme um die Knie schlang und sie festhielt, während sie die Frau neben dem Altar anstarrte.
    »Armes Küken«, murmelte die Frau auf der Liege, und Helena spürte, wie ein warmer Luftzug ihren Nacken liebkoste. Das Schaudern legte sich, und in seiner Abwesenheit stellte sich ein traumgleiches Gefühl ein. Die Frau mit der weißen Schreibfeder war Moira, die die Schicksale der Menschen festhielt. Sie war die Götterbotin. Auf dem Altar über ihr saß Eugenides, der Dieb, und fühlte sich an diesem so entweihten Ort offenbar unanständig wohl. Helena wusste nicht, wer die dritte war  – sie nahm an, dass es sich um die Göttin des Tempels handelte. Noch vor einem Augenblick war alles furchterregender gewesen, als sie hatte ertragen können. Jetzt nahm sie es mit weniger Aufregung hin als vorhin den Verlust ihres Feuerholzes.
    »Sie ist noch nicht Eddis«, bemerkte Moira ruhig.
    »Nein, noch nicht«, pflichtete die Göttin auf der Liege ihr bei. »Aber ihr Dieb ist doch gerade geboren worden, nicht wahr? Gestern, oder letzte Woche?«
    Moira legte die Feder beiseite und öffnete die Schriftrolle auf ihrem Pult. »Vor vier Jahren«, sagte sie trocken.
    Mein Dieb ?, fragte sich Helena. Es gab einen Dieb im Palast von Eddis, aber er war alt. Er war ganz gewiss nicht erst vor vier Jahren geboren worden. Aber er hatte einen Enkel, der ungefähr in dem Alter war. Sie erinnerte sich, dass nach seiner Geburt im Palast große Aufregung geherrscht hatte, als er ›Eugenides‹ genannt worden war, nach seinem Großvater und nach dem Unsterblichen, der hier saß und Helenas gezuckerte Nüsse verzehrte, als sei jede einzelne ein Hochgenuss.
    Sie schaute auf, und der Schutzgott der Diebe lächelte auf sie herab. Was für ein boshaftes Lächeln , dachte Helena. Voller Mutwillen, Selbstzufriedenheit und Humor. Er lächelte wie einer ihrer erwachsenen Cousins, Lycos, der verbannt worden war, als Helena sechs Jahre alt gewesen war. Sie erinnerte sich gut an ihn: Er konnte einen an einem Tag zum Lachen und am nächsten zum Weinen bringen. Als er den Hof verlassen hatte, hatte es ihr das Herz gebrochen und sie zugleich erleichtert. Sie musterte Eugenides argwöhnisch, aber sie hatte ein großmütiges Naturell, das die Waagschale zu seinen Gunsten neigte. Sie lächelte ihn schüchtern an. Sein eigenes Lächeln vertiefte sich zur Antwort und wurde zu einem weitaus freundlicheren Ausdruck, und Helena beschloss, dass sie ihn sehr mochte, so, als ob es ganz alltäglich sei, Göttern seinen Beifall oder sein Missfallen zu bekunden.
    »Setz dich hier zu mir«, sagte die Göttin von jenseits des Feuers und wies auf ein Kissen vor ihrer Liege. Helena ging um das Feuer herum und setzte sich. Von hier aus konnte sie Moira immer
noch sehen, und auch ein Stoffbündel, das als gebauschter Haufen neben der Feuergrube lag. Der Stoff war in verschiedenen Farben aus unterschiedlichen Garnen gewoben, so dass er an manchen Stellen uneben und weich, an anderen glatt und straff war. In leuchtenden Farben gehalten und da und dort von mattem Braun oder Schwarz durchzogen, schien er doch einem geordneten Muster zu folgen. Helena starrte es an und versuchte es zu erkennen, aber zu viel Stoff war in Knicken und Falten verborgen.
    Moira blickte von dem auf, was sie auf ihrem Pult schrieb. »Eugenides hat den Stoff vom Webstuhl der Parzen gestohlen. In der Menschenwelt wird wenig geschehen, bis sie neue Kettfäden aufgezogen haben.«
    »Das war sehr böse von dir, Gen«, sagte die Göttin über Helenas Schulter hinweg. »Alle werden erzürnt sein.«
    »Du hast doch gesagt, dass du Moira vermisst.«
    »Das habe ich gesagt, nicht wahr? Dann nehme ich an, dass sie auch auf mich zornig sein

Weitere Kostenlose Bücher