Der Gedankenleser
fast die Hälfte von den Speisen auf dem Teller zurück. Während des Essens erzählte Boris von Ann-Katrin, mit der er kurz vor unserer Verabredung telefoniert hatte und die sich riesig auf die Rückkehr ihres Papas freute. Ich allerdings verstummte zusehends. Ich mochte nicht mehr plaudern. Dafür ging mir viel zu viel durch den Kopf. Eine Spekulation jagte die andere, was genau Boris zu verantworten hatte. Darüber hinaus lag natürlich auch der Schmerz, die Wehmut, ihn am nächsten Morgen verabschieden zu müssen, schwer auf meiner Seele. Ebenso das Gefühl, vielleicht erneut enttäuscht zu werden und wieder einen Menschen zu verlieren. Wir bestellten Wodka. Das heißt, Boris schlug diese Bestellung vor, was mich etwas wunderte, da er während der vergangenen Wochen kaum Alkohol getrunken hatte. »Es ist unser letzter Abend«, meinte er, »und da ist ein guter Wodka genau das Richtige.«
Wir stießen an. »Auf unsere Freundschaft!«, sagte er. Ich nickte stumm und kippte mir das randvoll gefüllte Gläschen in die Kehle. »Noch zwei!«, rief er dem Besitzer des Restaurants zu. Wir schwiegen. Minute um Minute. Nur ab und zu begegneten sich unsere Blicke. Eine quälende Zeit. Ich spielte mit einem Bierdeckel, er hatte seine Hände um einen leeren Aschenbecher gelegt und rieb sie ein wenig daran.
Nach dem vierten Wodka aber sagte er:
»Ich kann nicht abreisen, ohne dir vorher noch etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Ich muss es tun. Es geht nicht anders. Und ich nehme dir nicht übel, wenn du danach nie wieder etwas mit mir zu tun haben willst. Ich wüsste selbst gar nicht, wie ich im umgekehrten Fall reagieren würde. Es fällt mir verdammt schwer, darüber zu sprechen, glaub mir.«
Und dann begann er konzentriert und mit gesenktem Blick zu erzählen.
Vor vierzehn Jahren hatte er auf der Geburtstagsparty eines Arbeitskollegen Dirk kennengelernt. Die beiden verstanden sich sofort bestens. Gleiche Interessen, gleicher Humor, gleicher Musikgeschmack. Dirk arbeitete damals bei einem Messebau-Unternehmen. Den ganzen Abend unterhielten sie sich und verabredeten sich gleich für den nächsten Tag zum Joggen. Binnen weniger Monate entwickelte sich eine enge und intensive Männerfreundschaft. Sie unternahmen viel zusammen, telefonierten täglich miteinander, schmiedeten Pläne. Zu diesem Zeitpunkt waren beide gerade solo, aber sie merkten schnell, dass sie sich in Sachen Frauen niemals in die Quere kommen würden. Zu unterschiedlich schienen die Geschmäcker zu sein. Nach etwa einem Jahr war ein beinahe absolutes Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Männern entstanden. Sie erzählten einander alles, berieten gemeinsam wichtige Entscheidungen und verlebten in den folgenden Jahren mehrere Urlaube zusammen. Dann lernte Boris Tanja kennen, die Mutter seiner Tochter Ann-Katrin. Wenig später verliebte sich Dirk in eine Frau namens Charlotte. Die beiden Paare verbrachten fast ihre gesamte Freizeit miteinander. Es kam nie zu nennenswerten Spannungen. Schon gar nicht zwischen den Männern. Für Boris war diese Freundschaft ein Geschenk des Himmels. Als Tanja dann schwanger wurde, stand sofortfest, dass Dirk der Patenonkel des Kindes werden würde. Er war sogar zusammen mit Tanja und Boris zur Entbindung ins Krankenhaus gefahren und hatte vor dem Kreißsaal an der Seite von Boris auf die Geburt der Kleinen gewartet. Die beiden waren einfach in jeder Lebenssituation füreinander da. Dirk hatte sich inzwischen von Charlotte getrennt und lebte allein. Ein knappes Jahr später kamen die Freunde auf eine Idee: Sie wollten sich zusammen selbstständig machen. Ein alter Traum von Boris. Ebenso von Dirk. Holzverarbeitung, Messebau, Schreinerei. Und dann ging es Schlag auf Schlag. Planung, Gespräche mit Banken, Immobiliensuche - und schließlich die Gründung einer gemeinsamen Firma, einer GbR. Für ihren Traum hatten die beiden sich mit über fünfhunderttausend Euro verschuldet ...
Was Boris mir dann im Weiteren berichtete, war so kompliziert, dass ich die Einzelheiten nicht auf Anhieb verstand. Darauf aber kam es auch nicht an. Entscheidend war der Kern der Geschichte.
Nur zwei Monate nach der Firmengründung ließ Dirk Boris im Stich. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion machte er sich auf und davon. Er hatte seine Eigenkapitalleistungen nicht erbracht, und offenbar verfügte er auch nicht über die Mittel, obwohl er Boris gegenüber stets beteuert hatte, im Besitz des Geldes zu sein. Ein eklatanter
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