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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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begann ich zu realisieren, was mir die Stimme mitten auf dem See offenbart hatte. Boris hatte den Tod eines Menschen verursacht. Schlimmer noch, er war schuld am Tod eines Menschen. Was genau hatte sich zugetragen? Was waren die Hintergründe des Geschehens? Hatte er vorsätzlich und aus niedrigen Motiven getötet, also gemordet? In seinen Gedanken war immerhin das Wort »Mörder« gefallen. Oder hatte er es mit den Begrifflichkeiten nicht so genau gehalten und meinte damit, dass er für die Tat verantwortlich war? Ein großer Unterschied. Wäre er nach juristischer Definition ein Mörder, würde ich dann noch mit ihm befreundet sein können? Vielleicht aber hatte er im Affekt gehandelt, eventuell aus Notwehr, dann sähe die Sache schon anders aus. Aber Fakt blieb: Dieser Mann, der mein Freund geworden war, hatte ein Menschenleben auf dem Gewissen. Und je länger ich darüber nachdachte, desto verzweifelter wurde ich. Was mir offensichtlich anzusehen war. Aber Boris konnte natürlich nicht wissen, worum es konkret in meinen Gedanken ging. Und so spekulierte er in die falsche Richtung:
     

    Er ist so traurig, weil heut unser letzter Tag ist. Ich weiß gar nicht, wie ich ihn trösten soll. Wenn ich ihm jetzt auch noch erzähle, was damals passiert ist ... dann bricht alles zusammen.
     

    Aber genau das erwartete ich von ihm. Er sollte erzählen! Mir war klar, wenn er schweigen würde, gäbe es keine Zukunft für uns beide. Auf keinen Fall wollte ich mein heimlich erworbenes Wissen in irgendeiner Form instrumentalisieren, um ihn zum Sprechen zu bewegen. Das musste er freiwillig und von sich aus tun. Und ich wollte alles erfahren. Jedes Detail. Er sollte vor mir eine Beichte ablegen. Diesen rigorosen Anspruch hatte ich an unsere Freundschaft. Wie es danach weitergehen würde, das wusste ich nicht. Wie sollte ich auch? In einer vergleichbaren Lebenslage war ich zuvor noch nie gewesen.
     

    Als wir das Ufer erreicht hatten, machte ich, so schnell es ging, einen Sprung heraus aus dem Boot. Ich wollte in Sicherheit gelangen. Weg von seinem Gehirn, seinen Gedanken, seinen Gefühlen. Ich wollte ganz normal mit ihm umgehen können, und ich hoffte so sehr, dass er den Mut finden würde, sich mir zu offenbaren. Viel Zeit blieb nicht mehr.
     

    Wir gingen schweigend zurück zu Tuuli, denn dort hatte ich mein Auto abgestellt. Es war immer noch recht warm, aber von Norden zogen dünne Wolken auf. Ich hatte mir vorgenommen, nichts mehr zu sagen. Er musste die Initiative ergreifen. Alles andere wäre falsch gewesen. Und so trotteten wir über den staubigen Weg. Fast unerträglich die Stille zwischen uns beiden. Und für Sekunden flackerte tatsächlich die Neugierde in mir auf, was wohl gerade in ihm vorging. Aber ich blieb auf Abstand - und wartete ab, wie er sich verhalten würde.
    Ich hatte schon so oft in meinem Leben gewartet. Daran musste ich plötzlich denken. Auf berufliche Chancen, auf Menschen, auf die Liebe, auf irgendwelche und letztendlich banale Gelegenheiten, auf das Ende trauriger oder bedrückender Zeiten. Warten ist ein schlimmer Zustand.
    Eigentlich hatte ich keine Lust mehr, zu warten. Dafür war mir mein Leben jetzt zu schade.
     

    Aber dann riss mich Boris aus meinen Überlegungen heraus, indem er sagte: »Ich möchte ein wenig allein sein, bitte entschuldige. Es geht mir nicht gut. Ich bin ganz durcheinander. Aber wollen wir heute Abend in dem kleinen Restaurant auf dem Campingplatz zusammen essen?«
    Ich überlegte nur der Form halber kurz (ich wollte nicht allzu willfährig erscheinen) - und antwortete:
    »Ja, einverstanden! Ich werde so gegen neunzehn Uhr dort sein.«

25

    Als ich das Restaurant, das eher einer Kantine glich, betrat, saß Boris bereits an einem der wenigen Tisch dort. Es waren nicht viele Leute im Raum. Aus einem kleinen Lautsprecher über der Theke plärrte internationale Popmusik, zum Glück nicht sehr laut, und es roch nach Kaffee und Pommes frites. Ich setzte mich so zu Boris an den Tisch, dass die Stimme keine Chance hatte. Er wirkte ernst, aber nicht sichtbar nervös. Wir redeten über belanglose Dinge. Den Flughafen in Helsinki, dort würde er am nächsten Tag umsteigen müssen, das Wetter in Österreich und Deutschland, die vielen Mückenstiche, die er sich an seinem letzten Tag zugezogen hatte.
    Dann kam unser Essen. Nichts Besonderes, aber es schmeckte ganz ordentlich und machte satt. Eigentlich aber hatte ich kaum Hunger, da ich sehr angespannt war. Und so ließ ich denn auch

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