Der Gedankenleser
Ach, Mist
In diesem Moment hätte ich ihn am liebsten in den Arm genommen und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben. Aber ich traute mich nicht, und es hätte die Sache ja auch nicht vereinfacht.
Für ihn ist es wichtig, hierzu sein. Das muss ich akzeptieren. Ich kann ihn nicht bitten, nach Österreich zu kommen. Was soll er dort auch?
Ich hatte mir über meine Zukunft ja noch keine Gedanken gemacht. Sicher, ich würde nicht für immer in Lappland bleiben können, vielleicht auch nicht wollen. Aber zurzeit war es richtig und gut für mich, in dieser einsamen Welt meine Zelte aufgeschlagen zu haben. An eine Rückkehr nach Mitteleuropa war keineswegs zu denken. Und meine Geldreserven würden noch viele Jahre reichen. Ich lebte äußerst bescheiden. Und seitdem ich mit dem Angeln angefangen hatte, waren meine Ausgaben für Lebensmittel zudem drastisch gesunken.
»Du könntest doch über Weihnachten zusammen mit Ann-Katrin und deiner Mutter hier hoch zu mir kommen«, schlug ich vor.
»Ja, wenn ich noch ein paar Urlaubstage hätte - aber die sind alle aufgebraucht. Das wird also nicht gehen.«
»Du hast mir doch erzählt, dass dein Chef ein so toller Typ ist! Wäre mit ihm nicht zu reden?«
»Ja, eventuell. Es käme auf einen Versuch an.«
Wieder sah ich Grün, gleichzeitig aber auch Weiß-Schwarz - die farbliche Entsprechung für Schuld. Darauf konnte ich mir nun überhaupt keinen Reim machen. Vielleicht fühlte sich Boris seiner Tochter und Mutter gegenüber schuldig, wenn er nur an seine Interessen und Vorlieben dachte und diese möglichst oft auszuleben versuchte.
Über dem See lag eine fast schon gespenstische Ruhe. Der Wind war abgeflaut, und die Wasseroberfläche glich einem leicht gewellten Spiegel. Die Sonne brannte.
Arne war der Erste, dem ich es erzählen könnte - und auch würde.
Wie bitte? Was hatte ich da gerade gehört? Ich wäre der Erste? Dem er etwas Bestimmtes würde erzählen wollen? Was meinte er damit?
Seit sieben Jahre schweige ich nun schon.
Kein Mensch auf der Welt weiß es. Soll ich es ihm sagen? Jetzt? Oder vielleicht doch besser nicht ...
Mir schnürte sich der Magen zusammen. Auch Boris trug also ein Geheimnis in sich. Nun war das geschehen, was ich seit Wochen zu verhindern versucht hatte, auch aus der Angst heraus, etwas zu erfahren, was mir diese neue Freundschaft wieder hätte zerstören können. Darüber hinaus schämte ich mich bei jedem Wort, das ich hörte. Ich belauschte sein Herz, ohne dass er es wusste. Gibt es eine größere Indiskretion?
Was aber trug er mit sich herum? Worüber schwieg er seit so vielen Jahren?
Er wird schlecht von mir denken. Er wird sich von mir abwenden. Er wird kein Verständnis haben. Ich würde die Freundschaft zerstören, wenn ich es ihm sage. Vielleicht ekelt er sich dann sogar vor mir.
Er ist schwul!, schoss es mir sofort durch den Kopf. Ja, klar! So wird es sein. Das ist es. Kein Mensch weiß davon, er hat es vor sieben Jahren bei sich entdeckt, bisher vollkommen geheim gehalten, noch nie ausgelebt - und jetzt ist er in mich verliebt.
Ich dachte nach. Ich hatte in meinem Leben oft mit schwulen Männern zu tun gehabt und war stets gut mit ihnen klargekommen. Wobei noch keiner, soweit ich weiß, in mich verliebt gewesen war. Keiner hatte mich begehrt. Das war jetzt offensichtlich anders. Aber wie auch immer, das sollte unsere Freundschaft nicht gefährden, wir würden einen Weg finden. Ich war spürbar erleichtert, dass ich nichts Schlimmes aus seinem Gehirn gehört hatte.
»Komm, lass uns ein bisschen weiter rudern«, sagte er.
»Ja, vielleicht noch weiter in die Mitte des Sees, dort können wir uns dann etwas sonnen.«
Ich überlegte, wie ich unser Gespräch auf schwule oder bisexuelle Männer lenken könnte. Ich müsste ihm irgendwie signalisieren, dass ich mit diesen sexuellen Spielarten, auch wenn sie für mich nicht infrage kämen, überhaupt keine Probleme hätte. Eventuell würde ihm dann eine Offenbarung leichter fallen, und wir könnten in Ruhe über alles reden, was ihn bedrückte. Mir war unumstößlich klar, darüber brauchte ich gar nicht nachzudenken: Ich wollte ihn nicht verlieren!
Bevor ich aber vorsichtig etwas in diese Richtung einfädeln konnte, sagte er: »Bist du schon mal von einem Menschen sehr enttäuscht worden?«
Ich war über diese Frage äußerst erstaunt und blickte ihn wohl auch dementsprechend an.
»Na, hör mal, ich habe dir doch von Moritz
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