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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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erzählt!«
    Wobei er nicht alles wusste. Nicht die Details, die ich von der Stimme erfahren hatte. Aber auch die, ich will es mal so nennen, »entschärfte« Version der Geschichte war hart genug und beantwortete wohl seine Frage von selbst.
    »Ja, entschuldige, du hast natürlich Recht. Aber ihr hattet ja so lange keinen Kontakt mehr gehabt. Ich meine es anders: Bist du mal von einem Freund, während ihr eng miteinander verbunden wart, komplett vor den Kopf gestoßen worden?«
    »Ich habe dir alles Wichtige aus meinem Leben erzählt. Warum fragst du mich so was?«
    Er schwieg, und die Farbe Grau in meinem Inneren verriet mir, dass er Angst hatte. Er tat mir leid. Er quälte sich so, und das war doch gar nicht nötig. Wie sollte ich mich jetzt verhalten? Was sollte ich sagen oder fragen?
    Wir waren fast in der Mitte des Sees angekommen und versuchten nun, es uns in der Enge des Bötchens ein wenig bequemer zu machen, was aber kaum gelang. Dennoch streckten wir unsere Gesichter der Sonne entgegen, hatten Schuhe und T-Shirts ausgezogen und ließen das Boot im ruhigen Wasser dümpeln.
     

    Wie würde ich reagieren, wenn er mir so was von sich erzählen würde?
     

    Warum tat er sich so schwer? Hatte ich einen derart intoleranten und verklemmten Eindruck bei ihm hinterlassen? Ich war mir ganz sicher, niemals und nicht einmal andeutungsweise abschätzig über Menschen geredet zu haben, die eine von der Norm abweichende Sexualität lebten. Sollte ich ihn, um die Spannung zwischen uns zu lösen, einfach und direkt auf dieses Thema ansprechen?
     

    Dazu allerdings kam es dann nicht mehr.
    Denn noch während ich das Für und Wider einer solchen Ansprache abwog, drang die Stimme in mein Gehirn ein -und was sie sagte, sprengte alle meine Vorstellungen.
     

    Ich bin ein Mörder ... Ich habe getötet ... Ich habe getötet ...
     

    Ich schnellte hoch, schlug die Hände zusammen, stierte ihn fassungslos an, und genau in der Sekunde, als ich etwas sagen wollte (was allerdings, weiß ich nicht mehr), schössen mir die Tränen aus den Augen, und ich sackte in dem kleinen Boot zusammen und war für einen kurzen Augenblick ohne Bewusstsein.
    »Um Himmels willen, was ist los, Arne?«, hörte ich ihn fragen und spürte, wie er meinen Kopf schüttelte und auf meine Stirn Wasser träufelte.
    »Es geht schon wieder«, sagte ich.
    Er hatte sich über mich gebeugt, und ich schaute ihm direkt in die Augen.
     

    Mein Gott. Hoffentlich ist er nicht krank. Es darf ihm nichts geschehen ... Ich liebe dich wie einen Bruder. Ich liebe dich wie Ann-Katrin. Ich liebe dich wie meine Mutter.
     

    Ich wusste überhaupt nicht mehr, wie mir geschah. Ich war gleichermaßen geschockt als auch tiefbewegt. Ich taumelte von einem Extremgefühl zum anderen. Mein Freund Boris war also ein Mörder? Er überlegte, mir die Tat zu gestehen?
    Mir? Als erstem Menschen auf der Welt? Und er liebte mich? Wie einen Bruder? Ich war also auf der völlig falschen Fährte gewesen. Er liebte mich so, wie er sein Kind und seine Mutter liebte? Was für ein Glück. Welch ein Geschenk. Denn auch ich empfand ja so viel für ihn. Aber er hatte einen Menschen getötet! Warum? Was war geschehen?
     

    Ich richtete meinen Oberkörper auf und setzte mich wieder hin.
     

    »Lass uns langsam zurückrudern«, sagte ich gefasst.
    »Aber - was war denn gerade los?«
    Und dann sprach mein Herz, nicht mein Verstand:
    »Es hängt mit unserer Freundschaft zusammen. Bevor du fährst, möchte ich dir noch etwas sagen. Daran liegt mir sehr.«
    Ich machte eine kurze Pause.
    »Für mich waren die letzten Wochen unvergleichlich. Ich habe noch nie so schnell Vertrauen zu einem Menschen gefasst. Du bist jetzt das Beste in meinem Leben!«
     

    Er schaute mich wortlos an - und dann rannen ihm die Tränen über die Wangen.
     

    Ich würde für ihn durchs Feuer gehen ... Und ich muss ihm alles sagen. Alles. Auch wenn er mich danach verachten oder verstoßen sollte. Ich will ihn niemals anlügen. Niemals ... Ich habe Angst.
     

    »Ich danke dir«, sagte er leise. »Es geht mir ähnlich! Umso schlimmer also, dass wir uns morgen trennen müssen.«
     

    Für eine ganze Weile empfing ich, zu meiner Erleichterung, keine Worte aus seinem Gehirn. Ich sah lediglich, dass er hin- und hergerissen war zwischen Angst und Traurigkeit.
    Langsam näherten wir uns dem Ufer und dem Bootssteg. Ich blickte zurück über den See, hinüber zu den Wäldern und dachte: Warum ist leben nur so schwer?
     

    Allmählich

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