Der gefährliche Drache
starrte ich sie an wie eine Fremde, bis mir mit sinkendem Mut und brennenden Wangen bewusst wurde, dass ich es schon wieder getan hatte. Wieder hatte ich mich mit Herz und Seele in ein Drama gestürzt, das nur in meiner Fantasie existierte. Mühelos hatte ich aus ein paar Blicken und einer Kusshand eine Dreiecksgeschichte und ein Mordkomplott ersonnen. Wenn Lilian mir nicht in die Quere gekommen wäre, hätte ich einen völlig Fremden belästigt, um ihn eines ruchlosen Verbrechens zu beschuldigen. Als ich mir die peinliche Szene vorstellte, die meine Impulsivität um ein Haar heraufbeschworen hätte, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken.
»Du siehst aus, als wärst du eine Million Meilen entfernt«, sagte Lilian.
»Das war ich auch«, gab ich zu. »Aber jetzt bin ich wieder da. Wie war Merlot der Prächtige?«
»Prächtig.« Lilian hängte sich bei mir ein. »Komm, lass uns zum Turnierplatz gehen, währenddessen erzähle ich dir von ihm. Wir wollen schließlich nicht das Ritterturnier verpassen! Hast du Emma hoch zu Ross gesehen? Sah sie nicht großartig aus? Will und Rob waren natürlich bezaubernd. Warst du beim Stand von Jasper Taxman? Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihn in Samtwams und Strumpfhose sah. Er sagte mir, dass Peggy im Geschäft in Finch die Stellung hält, da ihr das Kostüm nicht gefällt, das sie sich aus London hat kommen lassen. Aber von Sally Pyne habe ich eine ganz andere Version gehört. Angeblich war das Mieder bei Peggy so eng, dass weit mehr herausquoll, als schicklich wäre. Deshalb hat Peggy Sally gebeten, es für sie zu ändern, aber Sally hat mir erzählt, dass sie so viel Stoff an das alte Mieder hätte hinzufügen müssen, dass sie ebenso gut ein neues hätte …«
Der Tratsch meiner Freundin lullte mich wie ein wohltuender Balsam ein, ankerte mich in einer Welt, die ich kannte, und half mir, am rutschigen Ufer der Realität festen Halt zu bekommen. Ich schwor mir selbst, sobald der Zweikampf vorbei wäre, würde ich Jaspers Bude einen Besuch abstatten und mich auf die Suche nach Sally Pyne machen. Natürlich wollte ich die Geschichte mit Peggys Mieder aus erster Hand hören, aber vor allem wollte ich sicherstellen, dass ich tatsächlich wieder fest verankert war.
Während wir die Pudding Lane hinaufschlenderten, kauften Lilian und ich Spinatpasteten, Zitronenlimonade und Honigkuchen. Als wir den Picknickplatz oberhalb des Turnierplatzes erreichten, waren bereits alle Tische besetzt. Also hockten wir uns wie viele andere Zuschauer auch auf den Boden und breiteten unser Lunch zwischen uns aus.
Die meisten Teilnehmer des königlichen Festumzugs hatten sich wieder auf dem Kirmesgelände zerstreut, doch der König und einige wenige Mitglieder seiner Entourage hatten auf einem stabil wirkenden Podium am anderen Ende des Platzes auf Stühlen Platz genommen. Das Podium war mit festlichen Fahnen geschmückt, und eine gestreifte Markise spendete Schatten, deren vier Holzpfosten mit leuchtenden Bändern und Blumen geschmückt waren.
Der König saß auf einem hochlehnigen vergoldeten Thron in der Nähe des Geländers am vorderen Rand des Podiums, wo er gut sehen und gesehen werden konnte. Dieser Thron war nicht ganz so prächtig wie der auf der Bühne der Great Hall, aber dennoch standesgemäß. Der graubärtige Lord Belvedere stand nicht weit vom Thron entfernt. Er hantierte an einem der beiden Lautsprecher herum, die an den vorderen Pfosten der Markise angebracht waren.
»Vorsicht, Anachronismus«, sagte ich und stupste Lilian an. »Die Bühne ist verkabelt.«
»Ich fürchte, wir müssen ein paar Konzessionen an die Neuzeit machen«, sagte sie. »Ich für meinen Teil war erstaunt zu sehen, dass zu unserer Bequemlichkeit Chemietoiletten aufgestellt wurden statt der mittelalterlichen Entsprechung. Und, Lori, das ist keine Bühne, sondern die königliche Galerie. Ich habe ein wenig in einem Buch über den ritterlichen Zweikampf gelesen, der auch Tjost genannt wird oder Lanzenstechen. Der Turnierplatz wird auch Tjostplatz genannt, und die Beschrankungen nannte man Tilts.«
»Faszinierend«, sagte ich. »Fahre fort, du Gebildete. Bei der Gelegenheit kann ich meine Spinatpastete zu Ende essen.«
»Mach dich ruhig lustig, ich werde mich nicht entmutigen lassen.«
Das war die reine Wahrheit. Lilian Bunting war ein wenig schulmeisterlich. Wenn sie beschlossen hatte, andere an ihrem Wissen teilhaben zu lassen, brauchte es mehr als sanftes Necken, um sie von ihrem Vorhaben
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