Der geheime Brief
sie sich sicher fühlen konnte. Mein Vater teilte ihre Ansichten. Er war Jurist und wurde später Richter. Sie heirateten sehr jung und bekamen bald Kinder. Vielleicht waren sie durch Schaden klug geworden.«
Brigitte ließ sich zurücksinken.
»Ich weiß noch, dass mein Vater mit mir an den Rhein ging, als der Krieg sich dem Ende näherte«, sagte sie. »Da standen wir, sahen uns die vorüberfahrenden Schiffe an, und er sagte: Wenn Hitler den Krieg gewinnt, hänge ich die Juristerei an den Nagel und werde Kapitän auf so einem Kahn. Ich war damals erst sechs Jahre alt, aber ich habe es niemals vergessen. Bei seiner Pensionierung sollte ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen werden. Aber er nahm diese Auszeichnung nicht an und sagte, er habe ja nur seine Pflicht getan. Man sollte keine Orden dafür bekommen, dass man seine Pflicht tut. So drückte er sich aus. So ein Mann war er.«
Der Sofabezug kratzte unter ihren Oberschenkeln, und sie
hatte Angst, hängenzubleiben und sich vielleicht eine Laufmasche zu reißen. Durch das Fenster sah sie einen Telefonladen, eine Bank und eine Bäckerei, die mit frischen Brötchen lockte. Dann zog sie die Schachtel hervor und reichte sie Brigitte. Brigitte nahm den Deckel ab und hielt den Ring ins Licht. Sie hielt ihn dichter an ihre Augen, um die Gravur zu lesen.
»Ja«, murmelte sie. »Ich habe das Gegenstück, und … ja, er ist es. Der Trauring meines Großvaters. Unfassbar.«
Brigittes Hand zitterte.
»Du musst entschuldigen. Wir wussten ja, dass er tot war. Aber jetzt wissen wir auch, wo er liegt. Es gibt eine seltsame Sicherheit, das zu wissen und nicht mehr vermuten oder spekulieren zu müssen.«
»Es tut mir alles so leid. Dass meine Verwandten deine Familie bestohlen haben.«
Sie musste es tun. Jemand musste um Verzeihung bitten, und zwar sie, da die anderen nicht mehr am Leben waren. Brigitte schaute vom Ring auf. Sie sah überrascht aus.
»Aber meine Liebe! Wie meinst du das?«
»Ich meine, dass meine Großeltern und ihre Freundin … weil sie das taten, habt ihr niemals erfahren, was geschehen war. Ihr hättet ihn vielleicht identifizieren und seine sterblichen Überreste heimholen können. Er wäre in Deutschland begraben worden, seiner Heimat. Ihr hättet sein Grab besuchen können.«
»Dieses Grab hätte aller Wahrscheinlichkeit nach in Rostock gelegen und die deutsch-deutsche Grenze hätte uns den Weg versperrt. Wir waren bei denen, die rechtzeitig gegangen sind. Einige in der Verwandtschaft ahnten Böses, und eines Nachts sind wir über die Grenze gefahren, mit allem, was wir mitnehmen konnten. Ein wenig Geld, ein paar Möbelstücke, Kleidung. Das Silberbesteck war in einem Kinderwagen unter der Matratze versteckt.«
»Aber sie haben, wie sagt man … die Grabruhe gebrochen …«
Ihr Englisch reichte nicht mehr so recht. Brigitte musterte sie mitfühlend.
»Ich verstehe, dass man das so sehen kann«, sagte sie dann. »Ich konnte solche Gedanken auch aus deinem Brief herauslesen, und jetzt noch mehr, wo du alles ein wenig ausführlicher erzählt hast. Ich kann dir aber nur sagen, dass du keinerlei Schuld trägst. Abgesehen davon, dass du diejenige warst, die die Wahrheit entdeckt hat. Aber das betrachte ich als Geschenk. «
»Ich …«
»Siehst du, Inga, ich sehe das, was geschehen ist, auf ganz andere Weise. Als Tat der Liebe. Irgendwo in diesem Krieg gab es Menschen in eurem neutralen Land, die sich den Folgen dessen stellten, was die Kriegshetzer in Europa angefangen hatten. Dass deine Großmutter zudem bereit war, etwas zu tun, das entsetzlich gewesen sein musste, damit ein geliebter Mensch in Frieden ruhen konnte … auch dabei geht es meiner Ansicht nach um Liebe. Auf diese Weise kommt der Tod meines Großvaters mir nicht ganz sinnlos vor. Durch seinen Tod hat er die Seele eines anderen Menschen gerettet. Aber lassen wir die Religion beiseite. Die spielt in diesem Zusammenhang eigentlich keine Rolle.«
»Meinst du nicht …«
»Nein, Inga. Deine Großmutter hat ein großes Opfer gebracht. Und sie hat diesen Ring aufbewahrt. Also wollte sie, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich bin ganz sicher, dass das ihr ursprünglicher Wunsch war. Und jetzt ist sie ans Licht gekommen, durch dich. Der einzige Nachteil ist wohl, dass du mit einer deutschen Invasion an eurer Küste rechnen musst, die du so schön beschreibst. Mehrere von uns möchten hinfahren
und die Friedhöfe besuchen, die du erwähnt hast. Wo mein Großvater zuerst begraben war und wo
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