Der geheime Brief
verjährt gehalten hatte, steckten noch immer unversehrt in ihr. Die Trauer um ihre Mutter auf der anderen Seite des Ozeans, das Glück mit ihrem Vater, vor allem, wenn er seine braune Strickjacke trug. Die Begegnung mit Mårten und die Verliebtheit, die zur Liebe wurde, die Freude über Peter, das Glück, wenn ihre Arbeit gut lief. Die Verzweiflung über die Krankheit ihres Vaters, die ihr zur Erkenntnis über die Lage der Menschen auf Erden verhalf. Erfolge, die gut schmeckten und doch so rasch vom Teller verschwanden, ihr Gefühl, immer gezwungen zu sein, mehr zu geben. Die Überzeugung, dass es ihr so gut ging, dass sie nicht das Recht hatte, nein zu sagen, sondern für alle und alles da sein musste. Das Gefühl, nach Mårtens Tod so tief zu stürzen, dass sie nie wieder festen Boden unter den Füßen spüren würde. Die Angst in der Nacht und der Krampf am Tag, ein ewiges Nimm-dichzusammen im verspannten Rücken und zwischen den zusammengepressten Zähnen.
Niklas hörte zu und antwortete. Ab und zu spielte er Geige, wenn sonst nichts half. Dann winkte er ihr nach, als sie nach Stockholm fuhr, um in der Galerie zu arbeiten und ihre Nachforschungen fortzusetzen. Die Wohnung empfing sie verstaubt und fremd. Sie warf die Habseligkeiten ihres Lebens weg, während sie das Unersetzliche in einer Erinnerungstasche sammelte. Das reichte, wie sie nun spürte. Mårtens Ring steckte mit ihrem an ihrem Finger und suchte seine goldene Gemeinschaft. Für eine kleine Weile, ehe sie ihn Peter geben würde.
Izabella ging es besser, als sie sie besuchte. Als Überraschung
hingen in der Sammelausstellung der Galerie einige von Ingas Bildern. Sie betrachtete sie wie eine Außenstehende und sah ein, wie selten sie es sich erlaubte, auf ihren Erfolgen auszuruhen. Jetzt konnte sie sich sogar für die eine oder andere Schattierung oder die Lösung eines technischen Problems loben. Als ein Besucher behauptete, die Bilder hingen doch schon lange da, und man riskiere, rasch zu verschwinden, wenn man sich nicht erneuere, lachte sie nur freundlich. Als dieselbe Person dann fragte, ob Inga noch magerer geworden sei, »falls das überhaupt möglich ist«, antwortete sie, ja, sicher, und strich noch eine Nummer aus ihrer Telefonliste. Und nun merkte sie, wie viele andere hereinschauten, die sich über ihre Rückkehr freuten.
Als die Mitteilung aus Deutschland kam, war sie nicht darauf vorbereitet. Sie hatte es einfach nicht für möglich gehalten. Aber sie hatten Ingas Wunsch erfüllt, nachdem sie ausführlich und schriftlich den Grund ihrer Anfrage erklärt hatte. Das Verteidigungsministerium in Bonn, das Militärarchiv in Freiburg, die Deutsche Marine und Niklas’ Kontakte, alle hatten geholfen und Hintergrundberichte, Augenzeugenschilderungen und Tatsachen aufgetan. Das Ergebnis war die Adresse einer Brigitte Seeger-Mallebré in Frankfurt am Main, Kurfürstenstraße.
Sie wagte nicht, sich auf ihr Deutsch zu verlassen, sondern schrieb den Brief auf Englisch. Sie fing an mit Mårtens Tod, um dann die ungeplante Reise in die Vergangenheit zu erklären, und sie endete mit dem Ring. E. Seeger. 2. 3. 16. Zwei Wochen darauf kam die Antwort. Ingas Brief hatte in der Verwandtschaft eine kleine Sensation ausgelöst. Brigitte konnte seither an nichts anderes denken. Inga sei ihr jederzeit in Frankfurt willkommen. Und natürlich, »mein Beileid.«
Sie buchte den Flug und fuhr dann mit Onkel Ivar nach Göteborg. Sie wanderten nebeneinander über den Friedhof von Kviberg, bis sie zu den Kriegsgräbern kamen. Sie fingen an mit
den britischen, blieben beim Denkmal stehen und lasen die in Stein gemeißelten Namen der Schiffe. Ardent, Fortune, Shark, Black Prince, Tipperary. Auf dem Weg zu den nicht weit entfernt gelegenen deutschen Gräbern atmete Onkel Ivar schwer und stützte sich auf ihren Arm. Vor dem Stein, der mitteilte, dass hier deutsche Soldaten ruhten, die für ihr Land gestorben waren, nahm er den Hut ab.
Die schlichten Platten im Gras verrieten, anders als die britischen, nichts über die Schiffe. Nur das Datum zeigte, wie viele in der Schlacht am Skagerrak gefallen waren, es waren über sechzig, mal mit Namen, mal ohne. Onkel Ivar legte den mitgebrachten Tannenzweig nieder, sie ihren Kranz. Als sie das Grab verließen, hatte Onkel Ivar Tränen in den Augen, erklärte aber zugleich, er sei sehr glücklich. Wenn möglich, wollte er wieder herkommen. Sie dachte, dass es Onkel Ivar egal sei, wer Anton gewesen war und was er getan hatte. Jetzt
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